Ringvorlesung "Wahrheit"

Alternative Fakten – Fake News – Lügenpresse. Begriffe wie diese werfen eine Frage auf: Was ist Wahrheit? Die Antwort scheint einfach, und zumindest im Alltag ist sie dies häufig auch. In amerikanischen Anwaltsserien wissen sowohl alle Beteiligten vor Gericht wie auch das Fernsehpublikum was gemeint ist, wenn die Aufforderung ergeht, im Zeugenstand "Die Wahrheit, die reine Wahrheit, und nichts als die Wahrheit" zu sagen. Sowohl Eltern, die ihre Kinder ermahnen, die Wahrheit zu sagen, wie auch diese Kinder haben in einer derartigen (meist unangenehmen) Situation eine klare Erwartungshaltung. Es ist aber auch eine alltägliche Wahrheit, dass die Wahrheit im Auge der Betrachterin liegt … .

Aber wie ist es eigentlich in der Wissenschaft? Hier fängt unser Problem an. Eine wissenschaftliche "Wahrheit" liegt nicht im Auge der Betrachtenden, so viel ist klar. Aber wo dann? Im Lehrbuch? Bei Wikipedia? Auch dort sicher nicht, jedenfalls nicht vollständig.

Je nach Wissenschaftsdisziplin werden ihnen Kolleg*innen diese Frage durchaus anders beantworten. Und auch innerhalb einer Wissenschaftsdisziplin gibt es durchaus unterschiedliche Auffassungen bei Forschenden. So kann wissenschaftlicher Fortschritt als ein sich Annähern an eine absolute, aber noch nicht vollständig erkannte Wahrheit aufgefasst werden. Im Gegensatz dazu lassen sich wissenschaftliche Erkenntnisse auch als etwas vom Menschen Gemachtes auffassen, das eben "nur" ein Geistesprodukt ist und wo dann der Wahrheitsbegriff fehl am Platz ist.

Einfach ist es in der formalen Logik; hier gibt es das Gegensatzpaar ‚wahr‘ und ‚falsch‘. Allerdings gibt es auch Logiken, die neben ‚wahr‘ und ‚falsch‘ noch weitere Werte zulassen. Diese sind also komplexer, und so ist sowohl die Welt als auch die Wissenschaft. Antworten auf komplexe Fragen sind selten absolut wahr und selten absolut falsch. Damit wird der Wahrheitsbegriff in seiner absoluten Setzung in einigen Wissenschaftsdisziplinen durchaus als problematisch wahrgenommen; aus diesem Grund referieren die Forschenden in diesen Disziplinen eher auf intersubjektive Nachvollziehbarkeit, Theoriekonsistenz oder Widerspruchsfreiheit.

Für die Ringvorlesung "Wahrheit" haben Forschende sich bereit erklärt, das Konzept "Wahrheit" aus ihrer disziplinären Sicht zu hinterfragen und aufzuzeigen, wie ihre Disziplin damit umzugehen versucht.

Termine im Herbst 2023

25. September Prof. Dr. Anke Wischmann
Institut für Erziehungswissenschaften

"Wahrheit und Bildung im Spiegel sozialer Ungleichheit"

Die Idee der Bildung ist von Beginn an mit dem Begriff der Wahrheit verknüpft. Schon Wilhelm von Humboldt nannte sie den "wahren Zweck des Menschen". Später unterschied Theodor W. Adorno zwischen (wahrer) Bildung und Halbbildung. Zentral war beiden die Idee einer universellen Idee der Bildung. Im Spiegel sehr unterschiedlicher Lebenslagen soll nun gefragt werden, ob es eine wahre Bildung überhaupt (noch) geben kann, oder ob das Verhältnis von Bildung und Wahrheit im Lichte sozialer Ungleichheit neu bestimmt werden muss.

Hier finden Sie den Foliensatz von Prof. Dr. Wischmann

09. Oktober Prof. Dr. Stephanie Stiegel
Institut für Biologie und ihre Didaktik

"Vom Wald ins Gewächshaus und wieder zurück - Die Suche nach ‚Wahrheit‘ zwischen Feldstudien und Experimenten in der Biologie"

"Wer sagt denn das?"… Mit der Biologie erforschen Wissenschaftler*innen das Leben, um es zu verstehen. Die wissenschaftlichen Ziele sind dabei: Beschreibung, Klassifizierung, Erklärung und Vorhersage. Feldstudien und Experimente sind dafür wichtige Arbeitsformen. Welche Erkenntnisse können damit gewonnen werden und welche nicht? Die Erforschung von Blattherbivorie (Blattfraß) im Wald und im Gewächshaus beschreibt beispielhaft einen Weg auf der Suche nach ‚Wahrheit‘. Was sagt uns der Blick in die Baumkronen und das "Handlesen" der Baumblätter?

Hier finden Sie den Foliensatz von Prof. Dr. Stiegel

06. November Prof. Dr. Ilona Ebbers
Institut für Wirtschaftswissenschaften und ihre Didaktik

"Ökonomische Bildung und Wahrheit"

In der ökonomischen Bildung werden u.a. Modelle zu wirtschaftlichen Phänomenen vermittelt. Diese ökonomischen Modelle können als vereinfachte, reduzierte Abbildungen der realen Wirtschaft bzw. deren Wirklichkeit bezeichnet werden. Hierdurch sollen ökonomisch interessierende Fragestellungen beantwortet werden. Jedoch greifen diese Abbildungen in ihrer Erklärung oftmals zu kurz. So wird es teilweise problematisch, real stattfindende ökonomische Prozesse durch entsprechende Modelle erklären zu können. Daher reichen rein ökonomische Herleitungen nicht immer aus und lassen entsprechend Zweifel am Wahrheitsgehalt zu. Neben diesem Sachverhalt werden auch verschiedene Beispiele mathematischer und systematischer Fehlinterpretationen im Rahmen des Vortrags dargestellt.

20. November Prof. Dr. Margot Brink
Institut für Romanistik

"Die Wahrheit der Fiktion: über das besondere Wissen der Literatur"

Und wenn der Mensch nicht in erster Linie ein homo sapiens, sondern ein homo narrans wäre, ein erzählendes und sich durch Erzählungen orientierendes Wesen? Mündliche tradierte Geschichten, antike Mythen, religiöse Ursprungserzählungen, aufklärerische Romane oder fiktionale Gegenwartliteraturen: Erzählungen sind individuelle und kollektive Reflexionsmedien, vermitteln Sinn und Struktur, in einer Welt, die uns zumeist als chaotisch und kontingent begegnet. Erzählungen in Form von literarisch gestalteten Textformen gehören in dieses große Erzählreservoir und beinhalten ein ganz besonderes Wissen von der Welt, vielleicht sogar Wahrheiten im Modus der Erfindung – so die hier vertretene These.

Der Vortrag geht diesem Verhältnis von Wahrheit (Wissen) und Fiktion, Wahrheit der Fiktion, Wahrheit in der Fiktion nach und fragt außerdem nach den postkolonialen Machtverhältnissen, der "balance of stories" (Chinua Achebe, nigerianischer Schriftsteller), in den gegenwärtigen Erzählungen über die Welt. 

18. Dezember Prof. Dr. Lina Rahlf
Institut für Sportwissenschaft

"Talente im Sport: Genetische Disposition oder harte Arbeit?"

"Leider habe ich nicht die Handball-Gene meiner Eltern geerbt, sondern mein Bruder."

In diesem aktuellen Zitat eines Studenten der Sportwissenschaft, steckt die weit verbreitete Vermutung, dass wir bereits als Sporttalente auf die Welt kommen. Was jedoch ist dran an dieser Vermutung? Dieser Frage wird in dem ersten Teil meines Vortrags nachgegangen. Die Wissenschaft hat sich seit Jahrzehnten mit diesem Thema beschäftigt und fördert eine ernüchternde Wahrheit zu Tage. Doch jegliche Ernüchterung erweitert den Forschungshorizont und hilft bei der Weiterentwicklung zur Identifizierung von Talenten im Sport. In Bereichen des Leistungssports werden diese Weiterentwicklungen bereits in Zügen umgesetzt. Jedoch, ob sich Talente des Sports auch im Schulkontext identifizieren lassen und vor allem, ob eine Förderung der Kinder gelingt, ist in weiterhin offen und wird als zweiter Teil des Vortrags behandelt.

08. Januar 2024 Prof. Dr. Tania Meyer
Institut für Darstellendes Spiel, Theater und Performance

"Das Wahre spielen ≅ das wahre Spielen"

Theater ist Vorstellung und zeigt Fiktion: keine Wahrheit, nur Schein, Als-Ob, unecht. Manche sagen: Täuschung! Theater sei falsch und gefährlich. Andere sehen gerade im schönen Schein den Weg zur Wahrheit, und wieder andere meinen, Wahrheit ließe sich nur suchen, zum Beispiel im Prozess der Kunst oder im zweckfreien Spiel. 

Was aber macht Theater, wenn Wahrheit selbst in Frage steht - und alles Theater zu sein scheint? 

Die Antworten sind vielfältig: die Illusion der Bühne brechen, die vierte Wand zu Fall bringen, Theater als Forschung begreifen, Fakten auf die Bühne bringen. Der Einbruch des Realen hat das Verhältnis von Spiel und Wahrheit gehörig durcheinander gewirbelt. 

Vorgestellt werden Programmatiken und ausgewählte Beispiele zeitgenössischer Theaterpraxis, die konkret im Hier und Jetzt arbeiten.