Der Europa-Preis 2018

Der dänische Schriftsteller Carsten Jensen wurde 2018 mit dem erstmals vergebenen "Europa-Preis der EUF - gestiftet vom Hochschulrat" ausgezeichnet.

"Mit der Verleihung des Preises an Carsten Jensen würdigt der Hochschulrat der Europa-Universität Flensburg (EUF) den grenzüberwindenden Humanismus in dessen Werk und seine literarische Auseinandersetzung mit den desaströsen Folgen von Nationalismus und Militarismus. Mit seinem Engagement für Toleranz und Dialog ist er aktueller denn je", begründete die Vorsitzende des Hochschulrats, Prof. Dr. Eva-Maria Neher, die Wahl des Hochschulrats.

Der Preisträger

Carsten Jensen wurde 1952 auf der dänischen Insel Ærø geboren. Er lebt in Kopenhagen und ist mit seinen Reiseerzählungen, Kriegsreportagen und Essays zu einem der profiliertesten politischen Journalisten Dänemarks geworden.

2006 wurde er international als Autor bekannt mit dem 800 Seiten starken Seefahrerroman "Wir Ertrunkenen", in dem er sich mit der komplexen Geschichte Dänemarks auseinandersetzt. Es folgten 2007 "Rasmussens letzte Reise" und 2017 der Antikriegsroman "Der erste Stein". In ihm schildert Jensen anhand eines Zugs dänischer Soldaten in Afghanistan schonungslos die Grausamkeit, Sinnlosigkeit und Verrohung des Krieges.

Carsten Jensen wurde mit zahlreichen Auszeichnungen gewürdigt, unter anderem 2009 mit dem schwedischen Olof-Palme-Preis für internationale Verständigung und gemeinsame Sicherheit. Seine Romane erscheinen in Deutschland im Knaus-Verlag und sind in rund 20 Sprachen übersetzt.

"Der Europa-Preis, den der Hochschulrat der EUF dieses Jahr ins Leben gerufen hat, ist wichtiger denn je und ich bin sehr geehrt, der erste Preisträger zu sein", sagte Carsten Jensen. "Denn die Idee der Europäischen Union wird gegenwärtig von populistischen Bewegungen und zunehmend autoritären Regimes angegriffen. Sie sieht sich aber auch bedroht durch ihre Mitglieder selbst, die nicht entschieden genug Menschenrechte und demokratische Werte verteidigen."

Die Preisverleihung fand am Donnerstag, den 17. Mai 2018 im Rahmen eines Festakts innerhalb der Europa-Woche der Universität statt.

Die Verleihung des Europa-Preises am 17. Mai 2018

Die Preisverleihung am 17.05.2018 in der Übertragung durch den Offenen Kanal Flensburg

Die Reden der Preisverleihung

Heimatlosigkeit

Der Begriff Heimat hat im Dänischen keinen düsteren Klang. Es gibt sogar eine Art Heimatliteratur, die aber vermutlich nur von Literaturhistorikern gelesen wird – es sind Autoren wie Jeppe Aakjær und Johan Skjoldborg. Erstaunlicherweise prangern diese Schriftsteller aber soziale Missstände an und schildern Heimat als einen verrohten und brutalen Ort, in dem Aufbruch als Befreiung erscheint.

In Deutschland hat der Begriff Heimat einen ganz anderen, düsteren Klang. Untrennbar ist er mit der rassistischen Verehrung von Blut und Boden durch den Nationalsozialismus verbunden, seither ist das Wort kompromittiert.

Wurzellosigkeit war eine menschliche Bürde, Verwurzelung die Voraussetzung aller wahren Menschlichkeit, und Heimatlosigkeit ist ein sperriges Wort, das nur auf Deutsch einen Sinn zu ergeben scheint – ein Fluch. Erst viele Jahre später können wir wieder mit einer gewissen Unbefangenheit mit diesen Worten umgehen.

Der deutsche Soziologe Ulrich Beck behauptete in seinem optimistischen Buch Der kosmopolitische Blick aus dem Jahr 2005, dass der Begriff »Heimatlosigkeit« endlich seinen düsteren Klang verloren habe. Wir alle seien auf die eine oder andere Weise zu Bürgern der globalen Welt geworden.

Hatte Ulrich Beck recht? Ja und nein. Wir sind, ob wir es wollen oder nicht, tatsächlich zu Bürger des Globalen geworden. In einer globalisierten Welt hat es keinen Sinn mehr, zwischen der Innen- und Außenpolitik einer Nation zu unterscheiden. Außenpolitik ist Innenpolitik und umgekehrt. Also ja, Ulrich Beck hatte recht. Und nein, er hatte nicht recht.

Seine Definition von Heimat, die wir so leichtherzig für eine globale Bürgerschaft aufgegeben haben sollen, ist falsch. Wir haben uns nicht von irgendeiner unberührten Dorf-Idylle mit Kühen und grünen Wiesen getrennt. An diese Idylle glauben nicht einmal mehr die Produzenten von Postkarten. Die wirkliche Heimat für die Europäer von heute ist der Wohlfahrtsstaat.

Erstattet man die Dorf-Idylle durch den Wohlfahrtsstaat, bekommt der Begriff »Heimatlosigkeit« sofort wieder den drohenden Klang einer apokalyptischen Vorsehung. Ein Leben ohne Wohlfahrtsstaat ist der wahre Albtraum der Europäer. Der Wohlfahrtsstaat ist der wahre und dauerhafte Beitrag Europas zum 20. Jahrhundert. Die Technokraten sind gerade dabei, es zu vergessen. Doch die Menschen erinnern sich daran. Und genau darum geht es bei den populistischen Protesten.

Dass Deutschland plötzlich ein Heimatministerium bekommen hat, ist ein Zugeständnis an diese populistischen Strömungen. Die Aufgabe des Ministeriums ist die Landesentwicklung, die wahre Funktion jedoch ist symbolisch, und als Symbol ist es selbstreferentiell. Das Ministerium selbst ist die Heimat, nicht ein fernes Dorf in einer unberührten Landschaft.

Eiszeit in Europa

Der Angriff auf den Wohlfahrtsstaat begann vor langer Zeit. Margaret Thatcher, die 1979 Großbritanniens konservative Premierministerin wurde, fing damit an, als sie erklärte, »so etwas wie Gesellschaft gibt es nicht«. Ihrer Ansicht nach existiert eine gemeinsame Verantwortung oder gegenseitige Fürsorge über die Klassen und gesellschaftlichen Gruppen hinweg nicht. Es gibt nur den freien Markt, der aus menschlicher Sicht am ehesten an eine vom Sturm verwehte Eisscholle erinnert, die mit unbekanntem Ziel in den Meeresströmungen treibt. Mit Margaret Thatcher beginnt die Eiszeit in der europäischen Politik.

Margaret Thatcher gab ihre mit Nägeln beschlagene Stafette an die unterschiedlichsten politische Parteien und Strömungen weiter, bis alle – auch die Sozialdemokraten – sich hinter der umhertreibenden Eisscholle der Marktideologie versammelt hatten, und Begriffe wie Privatisierung, Outsourcing und Auslagerung zu Synonymen für Realismus wurden.

            Die Finanzkrise des Jahres 2008 wird zur Kulmination einer durch das Finanzkapital angestoßenen Entwicklung, das mit einer amoklaufenden Spekulationsspirale die astronomischen Verluste der Volkswirtschaft zu verantworten hat. Die Schlussfolgerung der Katastrophe ist grotesk, da demselben Staat, der vom Bankrott bedrohten Banken mit enormen Unterstützungsgeldern zu Hilfe eilt, vorgeworfen wird, die Krise durch einem extravaganten Überkonsum verursacht zu haben. Der Staat ist sowohl der Retter als auch der bequeme Sündenbock.

            Das Resultat ist die von Deutschland angeführte sogenannte Austeritäts-Politik, deren Ziel dramatische Einsparungen und Einschränkungen der staatlichen Aktivität sind. Ein anderes Wort für denselben Vorgang ist die sogenannte Politik der Notwendigkeit, während der Wohlfahrtsstaat, der seine Rolle nun offiziell ausgespielt hat, in Konkurrenzstaat umbenannt wird.

Von den Toten auferstanden

Das Wunder geschieht im Sommer 2015. Die christliche Wiederauferstehungstradition wird neu belebt, und Europa erlebt einen säkularen Ostermorgen, als der tote Wohlfahrtsstaat aus der Erde gezerrt wird, und dieselben Leichenbestattern, die ihn gerade begraben haben, ihm das Totenhemd abbürsten. Der Begriff Konkurrenzstaat wird aus den Wörterbüchern gestrichen, der Wohlfahrtsstaat wird in all seiner Herrlichkeit wieder eingesetzt – allerdings nur rhetorisch und nicht in den Staatshaushalten.

            Als Institution der Fürsorge, der Gemeinschaft und der sozialen Gerechtigkeit hat der Wohlfahrtsstaat seine Rolle tatsächlich ausgespielt. Dafür wird ihm nun eine neue Rolle zuteil. Sein Leben ist bedroht. Wenn Europa seine Grenzen für all die Flüchtlinge öffnet, die nun auf den Kontinent strömen, wird der Wohlfahrtsstaat zusammenbrechen, heißt es in kakophonischer Verwirrung bei den achtundzwanzig Nationen, die in dem fatalen Flüchtlingssommer die Europäische Union bilden.

            Jahrelang haben sie dem Wohlfahrtsstaat die Totenmesse gelesen. Nun präsentieren sie sich als dessen letzte Verteidiger gegen die anströmenden Flüchtlingshorden, die sich mit ihren Schmarotzerinstinkten auf einem historischen Plünderungszug durch Europa befinden.

Von seiner Grundidee her ist der Wohlfahrtsstaat Ausdruck einer Vorstellung von Gerechtigkeit, die alle Bevölkerungsschichten betrifft. Die Gleichheit aller Menschen ist sein oberstes Gebot. Der künstlich wiederbelebte Wohlfahrtsstaat, der nun ein Festtagskleid bekommt, das sich von seinem Totenhemd kaum unterscheidet, ist jedoch nicht für alle da, sondern nur für einige. Es ist der Wohlfahrtsstaat der Dänen oder der Deutschen, nicht nur, weil sie ihn aufgebaut haben, sondern auch, weil er exklusiv für sie erdacht wurde. Es ist nicht bloß eine nationale Konstruktion, sondern eine nationalistische.

Der ethnische Wohlfahrtsstaat: Eine historisch betrachtet ganz neue Institution, dessen Aufgabe es nicht ist, seine Türen zu öffnen, sondern zu verschließen. Der Wohlfahrtsstaat wird zu einer Festung, deren Zugbrücke hochgezogen ist.

Dies ist der große Augenblick des Populismus. Zwar reden Populisten nicht viel über den Wohlfahrtsstaat. Und doch feiern sie ihn indirekt, indem sie ständig von seinen Feinden sprechen.

Während der Wohlfahrtsstaat seine Popularität bewahrt, ist dies bei seinen Begründern, den Arbeiterparteien, nicht der Fall. Kompromittiert durch ihren leichtsinnigen Umgang mit der Politik der Notwendigkeit und der Schwärmerei für Privatisierungen, sind sie ihn den meisten europäischen Ländern dem Zusammenbruch nahe.

Was suchen Flüchtlinge?

Was suchen Flüchtlinge? Was treibt sie an? Wegkommen oder ankommen? Sind sie Experten für den Wohlfahrtsstaat, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um lebenslange Sozialhilfeempfänger in einer großen bürokratischen Maschinerie zu werden? Oder suchen sie nur die Abwesenheit von Krieg, Korruption und Unterdrückung? Das Europa, das wir verteidigen wollen, ist das Europa des Wohlfahrtsstaats. Das Europa, nach dem sie suchen, ist der freie Markt mit seinen Möglichkeiten. Das ist das Paradoxe an der sogenannten Flüchtlingskrise, die in Wahrheit eine politische Krise ist. Es geht nicht um den Zusammenstoß von Christentum und Islam, von religiösen und säkularen Werten. Es ist der Zusammenstoß von zwei unterschiedlichen Auffassungen von Europa – dem Kontinent der Begrenzungen gegenüber dem Kontinent der Möglichkeiten. Wir Europäer betonen unsere Begrenzungen. Die Flüchtlinge glauben an unsere Möglichkeiten.

Vielleicht ist dies die Parole der Zukunft: Europa als Kontinent der Möglichkeiten. Nicht als eine Verlängerung der neoliberalen Eiszeit, in der Europa bloß ein rund um die Uhr geöffneter Selbstbedienungsladen ohne Sicherheitspersonal ist. Und in dem Finanzspekulanten und multinationale Gesellschaften die menschlichen Ressourcen ungehindert ausplündern können, ohne etwas zurückgeben zu müssen. Sondern Europa als ein Kontinent der Möglichkeiten, wenn es zur Entstehung einer neuen Gemeinschaft kommt.

Der Kontinent der Alten

Darf ich es wagen, für einen Augenblick ein Tabu zu brechen? Irgendwann einmal waren alle einer Meinung, dass Europas großes Problem das immer höhere Durchschnittsalter seiner Bevölkerung ist. So ist es noch immer. Nur reden wir jetzt nicht mehr darüber. Stattdessen sind die Alten mit ihrer Ängstlichkeit zu einem politischer Machtfaktor geworden, sie halten es mit der Zukunft wie mit ihrem eigenen kommenden Tod: Sie wollen ihn möglichst nicht wahrhaben. In einer jungen Welt ist Europa zum Kontinent der Alten geworden.

Nordafrika und der Nahe Osten sind unsere großen Nachbarn, halbe Kontinente, in denen bis vor wenigen Jahren Hoffnung und  Aufbruchsstimmung herrschte, an der wir hätten mitarbeiten können. Wir haben uns jedoch entschieden, es zu ignorieren.

Europa hat eine Schicksalsgemeinschaft mit Nordafrika und dem Nahen Osten. Es sind unsere Nachbarn. Europäische Großmächte haben sie kolonisiert. Dann haben sie sich losgerissen, oft genug mit blutigen Kriegen. Aber nach wie vor sind wir im Guten wie im Schlechten verbunden.

Die Begegnung zwischen einer jungen Generation in Nordafrika und einem alternden Europa hätte eine glückliche Begegnung werden können. Als der Nahe Osten mit der Suche nach neuen Regierungssystemen beschäftigt war, hätten wir mit unseren reichen Erfahrungen beitragen können. Was hätten wir nicht alles zusammen vollbringen können? Diese historische Chance ist nun verpasst. Unsere Nachbarkontinente sind zu autoritären Herrschaftsformen zurückgekehrt oder werden in zerstörerischen Kriegen zerrissen, für die wir die Mitverantwortung tragen.

Eine entlarvende Denkpause

Menschenrechte oder Bürgerrechte? Was ist der Unterschied? Wir sollten nachdenken, bevor wir die Frage beantworten, und vielleicht entlarvt diese Denkpause unser Problem.

             Menschenrechte schützen uns vor staatlichen Übergriffen, Bürgerrechte schützen uns vor staatlicher Einflussnahme. Bei den Menschenrechten geht es um das Recht, beschützt zu werden. Bei den Bürgerrechten um das Recht zu bestimmen. Die Menschenrechte gelten für alle, die Bürgerrechte für die Bürger einer einzigen Nation. In einem Land ohne Bürgerrechte gibt es auch keine Menschenrechte.

Aber braucht es überhaupt Menschenrechte in einem Land, in dem es Bürgerrechte gibt? Das ist die Frage, die jetzt auch in Ländern gestellt wird, die sich demokratisch nennen. Was bedeutet es, wenn eine Mehrzahl im Land dafür stimmt, die Menschenrechte zu »revidieren« oder schlichtweg abzuschaffen; wenn eine Mehrzahl sich gegen die Verpflichtung ausspricht, Menschen in Not zu helfen, die auf der Flucht aus einem Land sind, in dem Krieg herrscht?

Totalitäre Staaten wissen, wie eng Menschenrechte und Bürgerrechte miteinander verbunden sind, und wenn ein totalitärer Staat sich an der einen Art der Rechte vergreift, vergreift er sich auch an der anderen. Menschen werden willkürlichen Übergriffen ausgesetzt, gleichzeitig wird ihnen jede Form der Einflussnahme genommen. Wissen wir das auch?

Sollte es wirklich möglich sein, dass Menschenrechte und Bürgerrechte kollidieren können, dass die Bevölkerung einer Nation mit Hilfe ihrer Bürgerrechte Verfolgten und Opfern ihre Menschenrechte verweigern? Kann eine Mehrheit eine Minderheit aus dem Kreis der Menschen herauswählen? Ist das unsere traurige Schlussfolgerung aus dem Fall der Berliner Mauer, der Auflösung des südafrikanischen Apartheidstaats und dem Rückzug der Militärdiktaturen in Südamerika, dass Menschen keinen Bedarf an Rechten mehr haben und daher auch keinen Anspruch auf unseren Schutz, wenn sie auf der Flucht sind? Ist dies das wahre Dilemma Europas nach zwei Jahrzehnten des neuen Jahrtausends: die beginnende Aufkündigung der eigenen historischen Erfahrungen unseres Kontinents?

Keine Nation existiert für sich allein

Die Europäische Menschenrechtskonvention, die Anfang der fünfziger Jahre verabschiedet wurde, entstand – wie die Ursprünge der Europäischen Union – aufgrund der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs. Wenn aus dem Zweiten Weltkrieg eine Lehre gezogen werden konnte, dann die, dass eine einzelne Nation einen übermächtigen totalitären Feind nicht besiegen kann.

Der Nationalsozialismus war auch – und darauf verweist der erste Bestandteil des Namens der Bewegung – nationalistisch, und dennoch versetzte diese monströse, totalitäre Bewegung dem Nationalismus im Namen des Nationalismus den Todesstoß. Die Lehre aus der Niederlage des Nazismus war simpel. Die Nation, die sich auf ihre Souveränität berief und darauf bestand, sich allein gegen den eindringenden Feind zur Wehr zu setzen, war preisgegeben.

Nur eine Allianz, nicht nur zwischen Nationen, sondern auch zwischen den unterschiedlichsten Lebensanschauungen und politischen Systemen – von den liberalen USA über das konservative Großbritannien bis zur kommunistischen Sowjetunion, die selbst totalitäre Züge aufwies – war imstande, den vorpreschenden Nazismus zu besiegen. Im Kampf gegen den Nationalsozialismus mussten die Nationen jeden Gedanken an Souveränität aufgeben, wenn sie überleben wollten. Nur das Land, das Soldaten in fremden Uniformen auf seinem Boden zuließ, konnte den Feind vertreiben. Nur das Land, dessen Bevölkerung bereit war zu lernen, wie die Namen der ausländischen Generäle ausgesprochen wurden, würde befreit werden.

Der Zweite Weltkrieg war kein Kampf für nationale Souveränität, sondern in erster Linie ein Kampf gegen die Verletzung sämtlicher Menschenrechte durch einen totalitären Staat. Das Verbrechen des Nazismus bestand nicht nur darin, einen ungeheuren Eroberungskrieg angezettelt zu haben, der die Machtbalance in ganz Europa verschob, sondern auch darin, dass die Nazis im Kielwasser ihrer Eroberungen mit der vollständigen Auslöschung ganzer Bevölkerungsgruppen begannen oder deren Leben auf sklavenähnliche Bedingungen reduzierten.

Lassen Sie uns folgendes Gedankenexperiment versuchen: Adolf Hitler schickt seine Armee nicht über die Grenze in irgendein fremdes Land. Die Vernichtung der Juden bleibt stattdessen ein Phänomen, das sich auf deutsches Gebiet begrenzt. Wenn die umliegenden Länder die nationale Souveränität für unantastbar halten, bleibt ihnen nur der passive Protest, wenn in den Vernichtungslagern aus den Schornsteinen der Krematorien Rauch aufsteigt. Jeder Versuch, die Juden mit etwas anderem als den kraftlosen Händen der Diplomatie zu retten, ist ausgeschlossen.

Das ist die unheimliche Lehre des Zweiten Weltkriegs: Der Respekt vor der nationalen Souveränität kann damit enden, dass ein Völkermord zugelassen wird.

Ein Übergriff auf eine abweichende Minderheit kann von der Bevölkerung durchaus tatkräftig unterstützt werden. In Polen, Rumänien und Litauen wurde die Vernichtungskampagne der deutschen Besatzungstruppen gegen die Juden von mordlüsternen Einheimischen enthusiastisch unterstützt.

Der Populismus unserer Tage hält es für demokratisch legitimiert, wenn eine parlamentarische Mehrheit diskriminierende Gesetze gegen eine ethnische Minderheit verabschiedet. In Ungarn wird die Dreiteilung der Staatsgewalt, die den Gerichten ihre Unabhängigkeit sichert, in Frage gestellt, ebenso die Meinungsfreiheit.

Ist es das Recht einer demokratischen Mehrheit, für die Abschaffung der Demokratie zu stimmen? Nur, wenn die Demokratie ausschließlich als Rechenmaschine angesehen wird und die Rechte der Menschen komplett ignoriert werden können – Hauptsache, es gibt dafür eine Mehrheit.

Das Recht der Mehrheit zu bestimmen, muss auch heute an eine Grenze stoßen, nicht nur, wenn die Übergriffe durch einen totalitären Staat erfolgen, sondern auch, wenn eine parlamentarische Mehrheit dahinter steht. Die Menschenrechte, nicht das Stimmrecht, sind der letzte Schutz gegen die Barbarei.

Was bedeutet es, wenn starke Kräfte heute den Menschenrechten ihre universelle Gültigkeit absprechen, weil die Situation heute angeblich anders ist als nach dem Zweiten Weltkrieg? Wieso ist die Situation anders? Wann brauchen Menschen auf der Flucht keinen Schutz mehr vor Übergriffen?

Optimismus und Pessimismus

Als ich Anfang der neunziger Jahre auf eine jahrelange Reise rund um die Welt ging, fuhr ich als Pessimist los und kehrte als Optimist zurück. Mein Pessimismus lag daran, dass ich kurz zuvor im blutigen Bürgerkrieg auf dem Balkan Augenzeuge der Barbarei geworden war. Ich verlor den in der humanistischen Tradition verankerten Glauben an das grundlegend Gute im Menschen, von dem der norwegische Dichter Nordahl Grieg in »Von Feinden umringt« schreibt: Er stellt fest, dass Betrug und Täuschung der Grund für Hunger und Not sind. Nein, meine neuen Erfahrungen lehrten mich, dass es oft genug auch an Bosheit als einer aktiv treibenden Kraft im Menschen liegt.

Mein Optimismus, der in den kommenden Jahren ein Gegengewicht zu den Erfahrungen vom Balkan werden sollte, lag an den Erlebnissen, die ich auf meiner Weltreise mit Menschen hatte, die alle den ernsthaften Willen hatten, miteinander auf eine anständige Art und Weise zu leben – auch in Ländern, die in den vergangenen Jahrzehnten von Krieg und politischen Katastrophen verwüstet worden waren. Als Fremder war ich bis zur Hilflosigkeit abhängig von dem Wohlwollen anderer, aber überall wurde ich mit demselben Gestus empfangen: Bei meinem Anblick ballte sich keine Faust zur Verteidigung. Immer wurde ich mit ausgestreckten Armen begrüßt.

Pessimismus und Optimismus. War ich näher an der Wahrheit über den Menschen, als ich Zeuge der Barbarei auf dem Balkan wurde? War mein Optimismus naive Träumerei, möglicherweise geprägt von der Stimmung der frühen neunziger Jahre, als die Berliner Mauer gerade gefallen war, und die Diktaturen überall auf dem Rückzug waren, während die Demokratien sich auf dem Vormarsch befanden? Oder schwankte ich zwischen zwei Wahrheiten, die – obwohl sie sich zu widersprechen scheinen – tatsächlich beide gültig sind, als Beweis dafür, dass der Mensch ein freies Wesen ist, das selbst wählen muss, ob es auf der Seite des Guten oder des Bösen stehen will?

Wenn Letzteres der Fall ist, scheinen wir heute dem Balkan näher zu sein als dem Fall der Berliner Mauer. Überall werden neue Mauern errichtet, autoritäre Regime breiten sich aus, und darüber hinaus kommt es zu einem Stammesdenken über die Aufteilung der Welt in ein unversöhnliches Die-oder-Wir.

            Der Westen selbst hat die Demokratie mit seinen fatalen Interventionen im Irak, Afghanistan und Libyen in Misskredit gebracht. Als es wenige Tage nach Saddam Husseins Fall zu umfassenden Plünderungen in Bagdad kam, und der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld mit einem lakonischen »Freiheit ist unordentlich« reagierte, unterschrieb er damit auch das Todesurteil seiner Mission. Wenn Demokratie ein Synonym für Chaos und Kriminalität ist, gibt es niemanden, der in Freiheit leben will. Befindet sich die Demokratie aus diesem Grund auf dem Rückzug? Oder liegt es, wie einige behaupten, daran, dass die Kulturen verschieden sind, dass nicht alle Menschen auf dieselbe Weise leben wollen?

Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Menschen auf der Welt gibt, der abends nicht gern zu Bett gehen will, ohne Angst haben zu müssen, dass unbekannte Männern mitten in der Nacht die Tür zu seiner Wohnung eintreten. Jeder, der ruhig schlafen möchte, bis die Sonne aufgeht, tritt auch für die Menschenrechte ein. Unüberbrückbarer ist die Kluft zwischen den Kulturen auch nicht. Unterschiedlicher sind wir als Menschen nicht.

Die gewöhnlichen Tuenden

Nach einer dreijährigen Reise, die ihn zu den unterschiedlichsten Orten der Welt führte, kommt der kanadische Intellektuelle und ehemalige Vorsitzende der liberalen Partei des Landes, Michael Ignatieff, in seinem Buch The Ordinary Virtues zu einer ähnlichen Einschätzung. Überall, ob in den USA, Brasilien, Bosnien, Myanmar, Japan oder Südafrika, trifft er bei den Einheimischen auf dasselbe Bewusstsein: Niemand hat das Recht, sie beiseite zu schubsen, sie zu treten oder ihnen den Mund zu verbieten. Die Vorstellung, dass sie – ganz unabhängig von ihrem sozialen Status – Rechte haben, hat überall Wurzeln geschlagen. Auf dieses Bewusstsein zielt Ignatieffs Buchtitel ab, wenn er von den »gewöhnlichen Tugenden« spricht.

Doch diese Tugenden sind lokal verwurzelt und haben offensichtliche Grenzen. Das Solidaritätsgefühl und die Hilfsbereitschaft beziehen sich nur auf diejenigen, die genau wie die Einheimischen selbst sind – nicht auf diejenigen, die ethnisch, religiös oder kulturell anders sind. Und damit sind wir mitten in Europas Dilemma: Der Feindseligkeit gegenüber Flüchtlingen.

            In Ignatieffs Buch, das 2017 erschien, ohne dass das Wort Nationalismus ein einziges Mal auftaucht, findet sich eine ebenso vorsichtige wie polemische Formulierung des Dilemmas. In einem Land, das sich weigert, sich dem Strom der Flüchtlinge zu öffnen, stehen wir seiner Meinung nach einem Konflikt zwischen der demokratischen Souveränität – das heißt dem Willen der Mehrheit, die will, dass die Grenzen des Landes geschlossen bleiben – und einem moralischen Universalismus gegenüber, der von uns verlangt, Menschen in Not zu helfen, egal, woher sie kommen.

Seine Formulierung ist vorsichtig, weil er hier einer Bevölkerungsmehrheit demokratische Souveränität zugesteht, die Menschenrechte außer Acht lassen möchte. Und sie ist polemisch, weil er an mehreren Stellen in seinem Buch Menschenrechte als eine abstrakte, globale Schreibtisch-Ethik beschreibt, obwohl sie doch etwas ganz anderes sind, nämlich ein hart erkämpftes historisches Recht, das zu vergessen fatale Folgen haben kann.

Wir gehören alle zur selben Art, aber wir leben nicht alle in der gleichen moralischen Welt, behauptet Ignatieff. Wir können uns nicht über unsere Unterscheide hinwegsetzen, wenn es um Hautfarbe, Rasse, Geschichte, Geschlecht und Kultur geht. Wir leben in einer globalisierten Ökonomie, aber unsere Herzen und Sinne sind nicht globalisiert, lautet seine Schlussfolgerung.

Wenn wir also die Grenzen für Flüchtlinge öffnen, sollten wir nicht über deren Rechte als Verfolgte reden. Wir sollten stattdessen die Rolle des Aufnahmelands als Geber betonen. Das Asyl ist seiner Ansicht nach ein Geschenk, das wir den Flüchtlingen geben, kein Recht, das sie haben.

Zum Schweigen verurteilt

In seinem vorhergehenden Buch, Fire and Ashes, vertritt Michael Ignatieff eine andere Haltung. In diesem Buch setzt er sich mit seiner bitteren Wahlniederlage als Vorsitzender der liberalen Partei Kanadas auseinander, die später von seinem Nachfolger Justin Trudeau zu einem triumphierenden Wahlsieg geführt wurde. Ohne dezidiert die Flüchtlinge zu erwähnen, ist er der Meinung, dass es darum gehe, gegen die Kräfte zusammenzustehen, die versuchen, uns mit Andersartigkeit, Hass und Neid zu spalten.

            »Es ist eine Geschichte, die uns lehrt, dass wir besser werden müssen, als wir sind.« Kein Wunder, dass Ignatieff als Vorsitzender der Liberalen scheiterte. Er vertritt gewissermaßen ein pädagogisches Projekt, doch heute ist es längst akzeptierte Wählerpsychologie, die Wähler niemals zu belehren oder ihnen zu erklären, dass sie nicht gut genug sind, so wie sie sind.

Das ist die Triebkraft hinter dem Erfolg des Populismus: Immer bestätigt er seinen Wählern, dass sie genau richtig sind, so wie sie sind – nicht trotz ihrer Mängel, sondern wegen ihrer Mängel. Ihnen wird der Spiegel der Selbstbestätigung vorgehalten, nicht der erziehende Zeigefinger.

            Ist das der richtige Weg, dass uns niemand an die Rechte der Flüchtlinge erinnert, sondern sich stattdessen mit dem Appell an unsere eigene Generosität begnügt? Besteht damit nicht das Risiko, dass von vornherein ein hierarchisches Verhältnis aufgebaut wird, mit uns in der Rolle der Geber und den anderen in der weitaus demütigeren Rolle der Empfänger?

Welche Gefühle erwarten wir bei denen, denen wir ein Geschenk überreichen, obwohl wir ihr oder ihm nichts schulden? Dankbarkeit, wie die Vorsitzende der dänischen Sozialdemokratie Mette Frederiksen verriet, als sie auf Twitter eine junge dänische Frau mit somalischem Hintergrund attackierte, weil sie die Ausländerpolitik der Partei angegriffen hatte: »Es sind harte Worte von einer jungen Frau, die von Dänemark gut aufgenommen wurde.«

            »Meine ethnische Herkunft wurde ins Spiel gebracht, und es wurde mir ziemlich deutlich erklärt, dass ich als Flüchtling dankbar zu sein habe. Und dass ich still sein und mich unkritisch verhalten solle«, so Hanna Mohamed Hassan, die mit ihrer Kritik die ungeschriebenen Spielregeln für lebenslange Dankbarkeit verletzt hat, die Flüchtlinge zum Schweigen verurteilen.

Mit der Rolle des Flüchtlings als Geschenkeempfänger geht ein reduzierter Status einher. Schweigend und folgsam sollen sie Danke sagen und damit ihren Willen zur Anpassung bekunden. Das Schicksal des Geschenkeempfängers ist es, ein Außenstehender zu sein, nicht nur kulturell als Flüchtling aus einem anderen Erdteil, sondern auch, wenn es um ihr Stellung innerhalb der Demokratie geht. Es verhält sich hier wie in George Orwells Dystopie »Animal Farm«: Einige sind gleicher als andere, und der Flüchtling ist kein Bürger, sondern dazu verurteilt, sein Leben lang ein Halb-Bürger zu bleiben.

Alle haben etwas zu geben

Der Wohlfahrtsstaat war nie ein Almosen-Staat, sondern ein Rechtsstaat, ein Staat der Gleichwertigkeit, ein Staat der gegenseitigen Hilfsbereitschaft. Seine ursprüngliche Idee war nicht, dass Schwäche auch eine Art Identität sein kann, sondern immer nur ein vorübergehendes, vorläufiges Stadium. Daher war der Wohlfahrtsstaat auch ein Inklusionsstaat und nicht sein Gegenteil, ein Exklusionsstaat.

            Wenn die Wohlfahrt aber zur Hintertür verwiesen wird, während die Wohltätigkeit zur Vordertür eintritt, beschränkt sich der Wortschatz des Empfängers notwendigerweise auf dieses eine Wort: danke. Das ist der tiefere Sinn des inzwischen tabuisierten Begriffs Konkurrenzstaat – die Verwandlung des Wohlfahrtsstaates von einem Inklusionsstaat zu einem Exklusionsstaat. Denn die konkurrierende Gesellschaft ist eine Exklusions-Gesellschaft, keine Inklusions-Gesellschaft.

Die plötzliche, explosionsartige Verbreitung des Wortes »Verlierer« ist ein eindeutiger Beweis dafür. Der Wohlfahrtsstaat kennt keine Gewinner oder Verlierer, aber genügend Starke und vorübergehend Schwache, also eine Hierarchie, die nicht auf Dauer angelegt ist.

»Es gibt immer etwas, worin man gut ist. Man muss nur herausfinden, was das ist«, sagt der Kranführer Ole in Ole Lund Kierkegaards Kinderbuch »Gummi Tarzan«. Das Mobbingopfer Ivan Olsen, der als Gummi Tarzan verspottet wird, lernt schließlich, mit hocherhobenem Kopf durch die Welt zu gehen, als er herausfindet, was er gut kann.

Wir können uns selbst in der Rolle der hochmütigen Geber sehen, oder wir können uns in Gummi Tarzans Geist entscheiden, jeden Menschen als jemanden zu sehen, der etwas zu geben hat. Die zweite Lösung scheint der richtige Weg zu sein, wenn wir die wachsende Ungleichheit und das überwinden wollen, was wir die Flüchtlingskrise nennen.

Was können wir von Don Quichote lernen?

Können wir zusammen leben? Der Roman des spanischen Schriftsteller Miguel de Cervantes über Don Quichote wurde berühmt als ein kompromittierendes Portrait eines naiven, idealistischen Träumers, der die Zeit, in der er lebt, nicht versteht, und zum Kampf gegen Riesen auszieht, wo andere nur Windmühlen sehen. Sein Widerpart ist sein treuer Knappe, der bodenständige und grundvernünftige Sancho Pansa – auch er eine komische Figur, von der aber in einem eher liebevollen Ton erzählt wird.

Irgendwann kommt Sancho Pansa in eine ähnliche Situation wie der versoffene Bauer Jeppe in Ludvig Holbergs Komödie »Jeppe vom Berge«, der im Bett des Barons landet, wo er als Beispiel für die Unfähigkeit der Bauern herhalten soll, wenn es um die Führung der Gesellschaft geht. In Sancho Pansas Fall ist es ein Herzog, der ihm anbietet, Gouverneur des Inselreiches Barataria zu werden. Sancho Pansa bittet den Ritter von der traurigen Gestalt um Hilfe, der sich trotz seiner närrischen Art als ein großer Menschenkenner erweist. Pansa folgt seinen Ratschlägen genau und besteht die Prüfung sogar so gut, dass seine Erlasse seither in der Stadt unter der Bezeichnung »Die Vorschriften des großen Gouverneurs Sancho Pansa« aufbewahrt werden.

            Der verbitterte Herzog, der erkennt, dass sein Plan, den Knappen zu demütigen, gescheitert ist, vertreibt ihn von seinem Posten, doch Pansa geht als der moralische Sieger, nachdem er – im Gegensatz zu Ludvig Holbergs Jeppe – bewiesen hat, dass ein gewöhnlicher Mann ein Reich durchaus gut regieren kann.

Allerdings hätte er es nicht ohne den Rat des Idealisten Don Quichote geschafft, und das ist ein Erfolg für diese seltene Kombination von Bodenhaftung und Idealismus, gewöhnlicher Volkstümlichkeit und elitärer Träumerei, die nie die Aufmerksamkeit bekommt, die sie verdient, obwohl ihre Botschaft an den Populismus unserer Zeit so deutlich ist.

Als das ungleiche Paar nach Barataria aufbricht, trifft Sancho Pansa einen alten Bekannten. Es ist ein Mann aus seinem Dorf, der aufgrund seiner maurischen, das heißt seiner muslimischen Herkunft per königlichem Dekret des Landes verwiesen wurde. Die beiden alten Freunde tauschen Geschichten über ihr Leben aus. Für den Mauren, der als deutscher Pilger verkleidet lebt, ist der Landesverweis eine Tragödie. Sein wahres Vaterland sei Spanien, erklärt er wieder und wieder. Er selbst ist, wie er es humoristisch beschreibt, überwiegend Christ und ein bisschen Moslem. Seine Frau und Tochter sind Christen, sein Schwager Moslem. Hier kann man wirklich von einer kulturell gemischten Familie sprechen, die sich irgendwann einmal in einem kulturell gemischten Land wohl gefühlt hat.

Und obwohl weder Pansa noch der Maure, königstreu wie sie beide sind, den Beschluss des Königs kritisieren, ist die Schilderung der Vertreibung an sich schon eine Kritik. Der Kultur- und Religionskrieg wird von oben angeordnet, doch im Dorf wurde geweint, als die ausgewiesenen Mauren den Ort verlassen mussten und viele Dorfbewohner anboten, sie zu verstecken.

Was war Cervantes’ Motiv für diese sympathisierende Schilderung des Schicksals der unglücklichen Mauren? Cervantes hatte an der Schlacht bei Lepanto teilgenommen, wo das Osmanische Reich in seinem Versuch aufgehalten wurde, Europa zu erobern. In der Schlacht wurde er mehrfach verwundet und verlor die Bewegungsfähigkeit einer Hand. Dann verschleppten ihn Piraten aus Algerien, und er musste fünf Jahre unter erbärmlichsten Umständen als Sklave leben, bevor er freigekauft wurde. Cervantes hatte also überhaupt keinen Grund, dem Islam oder den Muslimen gegenüber freundlich gesonnen zu sein. Dennoch überwand er seinen Widerwillen und entwickelte Sympathie für die Moslems, als sie Verfolgungen ausgesetzt waren – ebenso wie er, zumindest in Ansätzen, ein harmonisches Zusammenleben zwischen Islam und Christentum skizzierte.

Das alles passiert in einem Roman, der 1605 (sechzehnhundertfünf) erschienen ist. Zwischen Miguel Cervantes und uns liegen einerseits die Zeit der Aufklärung mit ihrer Botschaft von Humanismus und Toleranz, und andererseits das Zwanzigste Jahrhundert, in dem infame Kräfte die Dämonie des Zusammenstoßes der Kulturen ausleben durften. Und in der ganzen Zeit haben wir tatsächlich nichts gelernt und waren nicht in der Lage, uns auf das gleiche Niveau zu erheben, wie ein Roman, der vor vierhundertdreizehn Jahren von einem Kriegsveteran aus dem Krieg gegen den Islam geschrieben wurde?

Wer zur Klimaveränderung schweigt ...

Jede Diskussion über Globalisierung, Ökonomie, Flüchtlinge und Populismus, die die Klimaveränderungen nicht mit einzubezieht, ist Eskapismus. Die gilt auch für Diskussionen über die Zukunft Europas.

Am Ende dieses Jahrhunderts wird der Nahe Osten aufgrund des Temperaturanstiegs unbewohnbar sein, halb Afrika wird auf der Wanderung nach Norden sein. Und wenn wir nicht wollen, dass Europa im Einundzwanzigsten Jahrhundert die Rolle als Schmelztiegel und Kontinent der kulturellen Vermischung übernimmt, die Amerika im Neunzehnten Jahrhundert innehatte, dann müssen wir den Namen des Mittelmeeres ändern, das der dänische Dramatiker Christian Lollike morbid das »afrikanischeGrab« genannt hat. Den Schauplatz für einen auf der historischen Skala noch nie zuvor gesehenen Massentod.

         Der Golfstrom wird allmählich schwächer, und würde er aufhören zu fließen, würde auch Nordeuropa nicht mehr sicher sein, sondern von einer Eis-Apokalypse betroffen werden,  die auch die privelegierten Skandinavier zwingen würde, sich der astronomisch wachsenden Zahl der Klima-Flüchtlinge anzuschließen.

Die Katastrophe ist unsere Chance

Der verstorbene deutsche Soziologe Ulrich Beck schrieb in seinem letzten, posthum herausgegebenen Buch »The Metamorphosis of the World«, dass wir in einer Phase leben, die er eine Metamorphose nennt. Eine Metamorphose ist etwas Anderes und Größeres als bloß eine Veränderung, denn in einer Veränderung verfügen wir noch immer über Werkzeuge, die es uns gestatten, das Geschehen zu verstehen und zu benennen. Wir verfügen über Begriffe, Ideen und Worte, die uns eine scheinbare Kontrolle geben, und vor allem eine Idee, wo das Ganze hingeht, und was wir damit wollen. In der Gewalt einer Metamorphose sind wir wort- und begriffslos.

Es ist durchaus möglich, dass wir uns auf dem Weg zu einer namenlosen Katastrophe befinden – unsere wie immer verspäteten Reaktionen auf die Klimaveränderungen könnten darauf hindeuten. Wir müssen neue Worte und Begriffe finden, wenn wir die Welt verstehen und auch nur ein Minimum an Einfluss auf unser zukünftiges Schicksal behalten wollen.

            Wir müssen uns selbst und die Idee unseres Daseins auf diesem Planeten neu erfinden. Die Katastrophe, sagt Ulrich Beck, ist unsere große Chance, uns von den Weltbildern und gesellschaftlichen Formen zu befreien, die uns an den Rand des Zusammenbruchs geführt haben. Wir haben die Chance, etwas entscheidend Neues zu denken und zu schaffen.

Wenn wir die Fragen nach Krieg, Flüchtlingskrise und Klimaveränderungen hören, ist unsere instinktive Reaktion, uns in einer populistischen oder nationalistischen Flucht vor der Wirklichkeit aus der Welt abzumelden. Stattdessen sollten wir uns der Welt mit militanten Vorschlägen zuwenden, wie alles anders sein könnte. Gewinnt der Populismus, sind wir alle die Verlierer. Die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, sind so groß, dass sie sich nur lösen lassen, wenn wir alle zusammenstehen, über Kontinente, Religionen, ethnische Hintergründe und politische Haltungen hinweg.

            Die Klimaveränderungen schenken uns die Möglichkeit, eine ganz neue Sprache zu finden und auf eine ganze andere Weise zu leben. Wir müssen wie nie zuvor in unserer Geschichte kreativ sein. Wir müssen ein ungeschriebenes Grundgesetz der Geschichte brechen. Betrachten wir die Geschichte der Stämme, der Nationen, der Kriege und der Feindschaften: Wir wissen erst wirklich, wer wir sind, wenn wir einem Gegner gegenüberstehen.

Doch das Der-oder-Wir-Denken ist jetzt das Rezept für unseren Untergang. Wir müssen gemeinsam zu einer neuen Gemeinschaft über alle Grenzen hinweg finden. Oder das Haus, in dem wir wohnen, stürzt bei dem Erdbeben zusammen, das die Klimaveränderungen für alles sein werden, woran wir geglaubt haben, und was wir über die Bedingungen des Lebens wussten.

Wir müssen in einem großen Maßstab denken. Wir dürfen uns nicht damit begnügen, nur für uns persönlich fantasievoll zu sein, wir müssen es für die Menschheit sein. Es geht nicht nur um unser Überleben als Art, es geht auch um das Schaffen einer Gesellschaft, die anziehender und menschlicher ist als die gegenwärtige. Der Kampf ums Überleben darf nicht in einem Kampf jeder gegen jeden enden.

Wenn die Gefahr am größten ist, müssen es die Träume auch sein. Unsere gemeinsame Reise muss zu den Sternen führen. Nicht zu denen, die unerbittlich am Himmelszelt blinken, unerreichbare Lichtjahre entfernt, sondern zu denen, die wir selbst entzündet haben.

Ist Optimismus Pflicht?

»Pessimismus des Verstandes – Optimismus des Willens.« Das Zitat stammt von Antonio Gramsci, dem Gründer der kommunistischen Partei Italiens. Ein brillanter Denker, dessen Unabhängigkeit vom Stalinismus seiner Zeit an der Tragödie lag, dass er elf Jahre lang in einer der Gefängniszellen von Benito Mussolini in totaler Isolation verbrachte, bevor sein ohnehin geschwächter Körper aufgab.

Ich hatte immer das Gefühl, dass Pessimismus die klare Sicht verstärkt und daher intellektuell anziehend ist, doch umgekehrt kann Pessimismus auch der Schwarzseherei Nahrung liefern – dem resignierenden Gefühl, dass es ohnehin keinen Sinn hat zu denken oder zu handeln.

            Und Optimismus? Der Optimismus des Willens? Reicht es zu wollen, ohne zu denken und einen klaren Blick zu haben? Oder gibt es eine mögliche Allianz zwischen dem Willen und dem Intellekt, dem Optimismus und dem Pessimismus, die diesen immer fatalen Entweder-Oder-Gedanken aufhebt?

            Als ich mit Mitte vierzig Vater wurde, spürte ich, dass Optimismus zu einer moralische Pflicht wurde. Wenn ich nicht an eine Zukunft glauben würde, in der es wert ist zu leben, auch nach meinem eigenen Tod, hatte ich kein Recht, Kinder in die Welt zu setzen. Dann könnte ich das eigene Kind auch auf die Straße setzen und es dem Gesetz der Straße überlassen.

Allerding muss Optimismus nicht zu einem naiven Vertrauen führen, dass die Dinge sich schon irgendwie regeln werden. Optimismus erfordert Willen, auch den Willen zu handeln, und so kann der Pessimismus mit seiner nüchternen Klarsicht zu einem wichtigen Alliierten werden.

Viele von uns sind Eltern oder Großeltern, und diejenigen unter uns, die es nicht sind, sind Teil eines Netzwerks, in dem Kinder eine Rolle spielen. Alles, was von uns gefordert wird, ist die bereits bekannte Übung, einen Schritt beiseite zu treten und einzusehen, dass das Leben durch die Kinder und Enkelkinder weitergeht, auch wenn wir nicht mehr hier sind. Die Kinder sind auf einer Reise jenseits eines Horizonts, den wir niemals mehr überqueren werden, doch ihre Reise beginnt mit uns, und die Fortsetzung dieser Reise ist ebenfalls abhängig von unseren Entscheidungen und Handlungen.

Jedes Kind weiß, dass das Happy End im Märchen nie sofort kommt, sondern erst nach vielen Unannehmlichkeiten. Es ist nichts Abstraktes, den Blick auf den Horizont zu richten, egal ob er zehn, zwanzig oder fünfzig Jahre entfernt liegt. Unsere Kinder werden in diesem Horizont leben. Woran wir als ferne Zukunft denken, wird ihre Alltag sein.

Alle, die Kinder haben, sind von Natur aus weitsichtig. Nur schlechte Eltern, Werbefachleute und Kommunikationsratgeber leben im Augenblick. Doch genau das riskieren wir für unsere Kinder, für unsere Enkel und für den Planeten zu werden: schlechte Eltern.

Die Liebe ist zu einem ethischen Imperativ geworden, und es gibt keine psychologischen Entschuldigungen für das Versagen, wenn die Zukunft des Planeten auf dem Spiel steht. Wir müssen nach vorn blicken, nicht im Namen eines verkommenen Fortschritts, nicht im Namen einer Wachstumsdogmatik, sondern aus Fürsorge für die kommenden Generationen, im Namen unserer Kinder und Enkelkinder.

Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg

"Die Urfunktion der Sprache": Eine Würdigung des Schriftstellers Carsten Jensen

Laudatio für den Europapreisträger des Hochschulrats (verliehen am 17. Mai 2018) [1]

von Birgit Däwes

            Der Europapreis des Hochschulrats der Europa-Universität Flensburg wird in diesem Jahr zum ersten Mal vergeben, um eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens zu würdigen, die sich in besonderem Maße um Europa in der Wissenschaft oder in Gesellschaft und Kultur verdient gemacht hat. Es ist der Verfasserin dieser Zeilen daher eine außergewöhnliche Ehre, das Werk des diesjährigen Preisträgers Carsten Jensen genauer beleuchten zu dürfen. Zwar gebietet die Gattungskonvention der Laudatio, dass zur angemessenen Würdigung des Laureaten sein Lebensweg chronologisch nachgezeichnet werde, von seinem Studium der Literaturwissenschaften in Kopenhagen über seine langjähriges Engagement als Journalist und Redakteur, seine einflussreiche Tätigkeit als Literaturkritiker der Zeitung Politiken bis zu seiner Position als Professor für Kulturanalyse an der Syddansk Universitet in Odense. Ebenso sollten seine Essays und Reiseberichte in gleichem Maße Erwähnung finden wie seine zahlreichen Preise, darunter der Georg-Brandes-Preis 1993, die Holberg-Medaljen 1999, der DR Romanpreis für Wir Ertrunkenen 2007, der Olof-Palme-Preis 2009 und schließlich der Europapreis 2018. Ich möchte jedoch aus zwei Gründen von dieser Regel abweichen und stattdessen lieber exemplarisch einige seiner Romane vorstellen, die in 20 Sprachen übersetzt wurden, und in denen er das kulturelle Erbe und die zentralen Werte Europas mit einer Überzeugungskraft verteidigt, wie es in dieser kritischen Reflektiertheit und Nuancierung bei gleichzeitig hoher emotionaler Bindungskraft der Sprache nur wenigen gelingt.

            Zum einen ist es vor allem sein literarisches Werk, das in eleganter Weise die deutsch-dänische Grenzregion mit globaler Politik verbindet. Seine Hauptfiguren sind zwar Dänen, aber sie sind Kosmopoliten in transnationalen Zusammenhängen und beständig auf der Reise, nach Grönland, durch die Südsee oder durch Afghanistan. Nicht zufällig ist die erste Seite der englischsprachigen Ausgabe von Wir Ertrunkenen eine Weltkarte, in deren Mitte nicht – wie sonst üblich – Europa liegt, sondern der Atlantik zwischen Westafrika und der Karibik.

            Zum anderen – und dies mag in unserem Zeitalter der digitalen Schmähungen und Filterblasen, in dem Streitkultur und der Austausch von Argumenten sowie Skepsis und Widerspruch zunehmend durch reflexhafte Einordnungen in vermeintliche politische Lager oder gar durch Schweigen ersetzt werden, besonders wichtig erscheinen – zum anderen verweisen Jensens Romane auf die Wirk- und Spannungskraft der Sprache, und insbesondere der literarischen Sprache, wenn es darum geht, Differenzierungen zuzulassen und Komplexität auszuhalten. Und diese Sprache gilt es zu kennen: ein historisches Bewusstsein ist unerlässlich für den Umgang mit den Herausforderungen, vor denen Europa heute steht. Mit anderen Worten, so wie die Schriftstellerin Thea Dorn dies vor kurzem in einem Interview formulierte: "Ich glaube an den Zusammenhang zwischen geistiger Bildung und politischer Mündigkeit."[2] Genau um diesen Zusammenhang geht es in Carsten Jensens Werk.

           
            Die drei Texte, die ich dabei besonders ins Blickfeld nehmen möchte und die durch Figuren, Orte und Querverweise ohnehin miteinander verbunden sind, sind der 2007 erschienene Künstlerroman Rasmussens letzte Reise, in dem der Lebensweg des Marinemalers Jens Erik Carl Rasmussen aus seiner letzten Grönlandfahrt 1893 heraus aufgefächert und reflektiert wird; die von Jochen Jung als "gewaltiges […] Menschendrama"[3] bezeichnetehistorische Seefahrtsgenealogie Wir Ertrunkenen aus dem Jahr 2009, die über vier Generationen hinweg das Städtchen Marstal als Mikrokosmos nordeuropäischer Geschichte beschreibt, sowie sein jüngstes Werk, der 2015 erschienene Antikriegsroman Der erste Stein, der die Grenzen interkultureller Kompetenz auslotet, und in dem der dänische Militäreinsatz in Afghanistan fast vollständig – die maritime Metapher sei hier gestattet – in einer Weise aus dem Ruder läuft, dass Christoph Bartmann den Roman in der Süddeutschen Zeitung als "Räuberpistole mit hohem Moralgehalt"[4] bezeichnete.  Doch dieser Wertung muss man sich nicht anschließen.

***

            Ich möchte mit dem Werk beginnen, das unsere deutsch-dänische Grenzregion am deutlichsten mit der Geschichte Europas verschränkt: mit dem vielfach preisgekrönten Seefahrerepos Wir Ertrunkenen. In einer Schlüsselszene dieses Romans beschreibt Jensen, wie die Hauptfigur der dritten Generation, der Kapitän Knud Erik Friis, mitten im Zweiten Weltkrieg in der eisigen Barentssee ins Wasser springt, um nach einem Torpedoangriff den – wie er denkt – letzten Überlebenden eines anderen, versenkten Schiffes zu retten. Nun folgt eine Unfassbarkeit auf die nächste: Als er sich ohne Schwimmweste nähert, stellt er nicht nur fest, dass es sich überraschenderweise um eine Frau handelt, die er mit Hilfe seiner Mannschaft in letzter Minute vor dem Ertrinken zu bewahren vermag, sondern es stellt sich zudem heraus, dass die Schreie und das Blut dieser Frau nicht den Verletzungen durch die Bomben geschuldet sind, sondern den Schmerzen, die mit einer Geburt einhergehen, denn die Überlebende war offensichtlich gerade dabei, ein Kind zur Welt zu bringen. So rettet Kapitän Friis nicht einen, sondern zwei Menschen, denn auch das unterkühlte Baby überlebt – und wird von der Mannschaft Harald Blauzahn genannt, Bluetooth, nach dem Wikingerkönig des 10. Jahrhunderts, dem es erstmals gelang, Dänemark zu vereinen, dessen größte Sammlung an Silbermünzen vor fast genau vier Wochen – am 16. 4. 2018 – auf Rügen gefunden wurde und dessen Initialen wir alle in Runenschrift als Logo für eine Funktechnologie auf unseren Mobiltelefonen mit uns tragen. Anhand dieser Szene lässt sich das Werk Carsten Jensens besonders gut vorstellen, denn sie vereint vier charakteristische Merkmale, die sein Engagement für den Kulturraum und die Werte Europas besonders deutlich werden lassen.

            1. Zum ersten ist Bluetooth eine typische Figur für Jensens kontinuierliche Auseinandersetzung mit europäischer Identität, denn der Junge ist inmitten von Kriegsbomben auf See geboren – genau genommen in der See – und hat daher keine nationale Zugehörigkeit. Diese Art der transnationalen Grenzüberschreitung betrifft auch viele der anderen Seeleute, die, wie der Roman uns versichert, das Meer suchten, weil es dort "keine Herren, keine Flurgrenzen, keine kleinen, unergiebigen Parzellen" gab, sondern "Grenzenlosigkeit und Freiheit. Hier konnte der Schiffsjunge Kapitän werden, wenn er wollte, und wenn er ein Marstaller war, dann wollte er."[5] Trotz dieser Grenzenlosigkeit sind die Werke Jensens keinesfalls unverbindlich, sie feiern im Gegenteil ihre tiefe Verwurzelung im kulturellen Erbe Europas. Auf den ersten Blick sind sie spezifische Monumente für die Figuren oder Orte ihrer Thematik: Rasmussens letzte Reise ist ein Denkmal für einen dänischen Maler des 19. Jahrhunderts, und Wir Ertrunkenen wurde als "Gedenkstein" konzipiert, wie Jensen selbst sagt,[6] und zwar für seinen eigenen Vater im Besonderen und ganz allgemein für die Seeleute Marstals als dem einst zweitwichtigsten Hafen Dänemarks. Zugleich sind alle Texte untrennbar verwoben mit europäischer und transatlantischer Literaturgeschichte. Von Homers Odysseus und Telemachos, Schillers Wilhelm Tell und den Wikingern um Harald Blauzahn in Wir Ertrunkenen bis zu Euripides‘ Medea, dem Neuen Testament und Arthur Rimbaud in Der erste Stein spannt Jensens Werk weite kulturhistorische Bögen und ehrt damit ein gemeinsames literarisches Erbe als von zeitlosem Wert. Als Kronzeugen bemüht er neben der griechischen Mythologie vor allem Herman Melville, Robert Louis Stevenson, Joseph Conrad und Thomas Mann, und die umfassende literarhistorische Allgemeinbildung, die den Leserinnen und Lesern abverlangt wird, ist kein Distinktionsmerkmal, sondern Einladung und Chance zugleich.

            2. Als zweiter charakteristischer Zug wäre die stilsichere Hinführung zu einer Pointe zu nennen, bei der eine kunstvoll aufgebaute Erwartung des Publikums gründlich und nicht ganz ohne Genuss durchkreuzt wird. Nicht nur überlebt die soeben zur Mutter gewordene Fremde; sondern es handelt sich auf den dritten Blick sogar um die aus einer Inuit-Familie stammende Sophie Smith, in die Knud Erik sich 16 Jahre zuvor in Neufundland verliebt hatte. Wen jetzt nicht ganz ohne Berechtigung der Verdacht auf Groschenliteratur beschleicht, der sei an den magischen Realismus eines Salman Rushdie oder eines Gabriel García Marquez erinnert, der angeblich mal sagte: "Fiction was invented the day Jonah arrived home and told his wife he was 3 days late because he’d been swallowed by a whale."[7] Tatsächlich funktioniert jede dieser Szenen, und nicht selten geht Jensen noch weiter über die Grenzen des Wahrscheinlichen hinaus. Eine Unterwassergeburt im nur wenige Grad kalten Nordpolarmeer hat dabei einen ähnlichen Rang wie die berühmte Auftaktszene des Romans, in der der Seemann Laurids Madsen im Gefecht von Eckernförde 1849 von der Wucht einer Kanonenkugel bis fast auf die Höhe des Masttopps geschleudert wird und unbeschadet wieder auf das Deck zurückfällt, oder Frede, der Storch auf dem Dach des jüdischen Schuhmachers, auf den einer der Jungen im Jahr 1921 versucht zu schießen und der im Mai 1945 dieselben Jungen als Kriegsheimkehrer von der deutschen Nordseeküste aus bis nach Hause begleitet. Was hat das mit der europäischen Idee zu tun? So wie der Frieden direkt hinter dem Krieg als erreichbar zu gelten hat, das rettende Ufer direkt hinter dem Schiffbruch, und so wie für Voltaire ein Europa als Gemeinschaft der Humanität direkt hinter nationalem Eifer angesiedelt war, so liegt in diesen Romanen direkt hinter dem Bereich des Plausiblen ein Angebot des noch Möglichen, und Jensen lässt keinen Zweifel daran, dass jede dieser Szenen auchpolitisch gemeint ist.

            3. Neben solch großflächigen Handlungsbögen und der Anerkennung von Kontingenz verweisen auch Zeitstruktur und Erzähltechnik – als 3. Merkmal von Jensens Werk – immer auf größere Zusammenhänge und damit über sich selbst hinaus. Diese beruhen, wie es sich für die westliche Moderne gehört, grundsätzlich auf Prinzipien von Relativität, Vielstimmigkeit und Pluralismus, und so subtil und unverdächtig, wie das "Wir" in Wir Ertrunkenen als kollektive Erinnerung die Jahrhunderte durchwandert, so wechselt auch die Erzählerfigur in Der erste Stein fortwährend die Sichtweise. Eine stabile, objektive Version der Welt, eine ‚Wahrheit,‘ und schon gar eine einfache, ist nicht zu haben. Dies wird am deutlichsten in der Zeitstruktur, die in ihrer Wechseldynamik zwischen historischer Präzision und widersprüchlicher Dehnbarkeit dem vagen Zeitempfinden auf See entspricht. Der erste Stein verzichtet in Gänze auf Daten und ist stattdessen durch farblich markierte Gefahrenzonen strukturiert. Wir Ertrunkenen ist voller Widersprüche, die sich – ganz wie bei jeder menschlichen Erinnerung – am Ungefähren orientieren und dabei an den geschichtlichen Hintergründen reiben. "Ich bin sicher", schreibt Carsten Jensen im Nachwort zu Wir Ertrunkenen, "dass zukünftige Historiker mich verfluchen werden, denn ich habe wirklich alles getan, was ich konnte, um die Grundlagen ihrer Arbeit zu zerstören."[8] Ein Roman, in dem James Cook als Schrumpfkopf über alle Weltmeere befördert wird, bevor man ihn in der Ostsee vor Ærø bestattet, kann trotzdem ein historischer sein, denn in der Literatur geht es nicht um messbare Daten, sondern um das Imaginäre, um das Eröffnen neuer Räume, um jenes "Grenzland," wie es in Rasmussens letzte Reise heißt, "in dem das Leben standhielt."[9]

            4. All dies mag weder neu noch einzigartig sein, die Meisterschaft des literarischen Werks von Carsten Jensen jedoch liegt in der unerschütterlichen Differenziertheit seines ethischen Anspruchs. Die Figuren seiner Romane werden unentwegt vor moralische Entscheidungen gestellt, und diese fallen bei weitem nicht immer so aus wie bei Knud Erik Friis, dem Kapitän des Schiffs, das Jensen mit seiner charakteristischen Ironie "Nimbus" nennt – lateinisch für Heiligenschein. Denn Friis hat so gar nichts Heiliges: erst kurz vor seinem Sprung ins Wasser hat er einen deutschen Bomberpiloten, der sich mit erhobenen Händen ergeben wollte, aus nächster Nähe erschossen und ist Befehlen gefolgt, die ihm die Bergung Überlebender untersagte. Hier jedoch folgt er dem Kant‘schen Imperativ, der Logik der Seefahrt, die einer höheren Gefahr Zusammenhalt und Gemeinschaftsgeist entgegensetzt. Wie alle anderen Hauptfiguren in Jensens Werk ist auch er ambivalent. Es geht um nichts weniger als darum, das Richtige zu tun, aber die Frage danach, was richtig ist, lässt sich nie eindeutig beantworten. Am deutlichsten wird dies am Ende des Afghanistan-Romans Der erste Stein, in dem der dänische Oberleutnant Rasmus Schrøder seine gesamte Einheit verrät, Untergebene ermordet, aus Lust an Spiel und Profit mit den Taliban paktiert und zum Schluss doch das Nachsehen hat. Er wird im pakistanischen Grenzland von den Taliban zum Tode durch Steinigung verurteilt, und als die drei letzten dänischen Überlebenden seiner Einheit – darunter der Oberkommandierende, eine Frau und ein Seelsorger – das Urteil vollstrecken sollen, beginnen sie nach kaum merklichem Zögern damit, aus nächster Nähe zu werfen. "Kein einziger Stein trifft mehr daneben" ist der letzte Satz des Romans.[10] Während wir Lesende noch nach zivilisatorischer Luft schnappen, ertappen wir uns doch gleichzeitig bei Gedanken an poetische Gerechtigkeit. Jensen macht uns durch seine Erzähltechnik zu Komplizen; er führt uns gemeinsam mit seinen Figuren in moralische Gefahrenzonen und entlarvt dabei jeden gesättigten Rückzug auf politische Korrektheit und jede pauschale Zuweisung von Schuld.

            In dieser Frage ist er hochaktuell angesichts einer schwindenden politischen Streitkultur, in der – wie Ulrich Greiner vor kurzem in seiner Verteidigung von Uwe Tellkamp schrieb – "die Zahl der Platzanweiser zugenommen hat" und echter Dialog kaum noch stattfindet.[11] Die große Herausforderung Europas ist es, die Vielstimmigkeit zuzulassen und zugleich das gemeinsame Erbe von Werten, Rechten und Pflichten nicht aufzuweichen. Ohne diese Grundverfassung von Menschenwürde und vor allem von Rechtsstaatlichkeit ist es bis zu den Steinwürfen nicht weit. Eine zusätzliche Anmerkung sei mir mit einem kurzen Blick auf unsere nationale Verantwortung gestattet: wenn ein Schriftsteller wie Martin Walser schon vor 20 Jahren in einer Rede in der Frankfurter Paulskirche fast ungestraft das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin eine "Monumentalisierung der Schande" nennen durfte, ist es im Frühjahr 2018 keinesfalls weniger wichtig geworden, antisemitische Übergriffe und eine wachsende Feindlichkeit gegenüber Menschen jüdischen Glaubens im Herzen Europas mit klaren Worten zu verurteilen, egal von wem sie ausgehen. Dies gilt insbesondere in einem Land, das einen Holocaust verantwortet hat, und es gilt für alle, die in diesem Land ihren Wohnsitz haben. Wenn der Weg des Dialogs schwierig wird, so die zentrale Botschaft in Carsten Jensens Werk, dann muss er erst recht gegangen werden. Diese Botschaft erinnert an den berühmten Satz von F. Scott Fitzgerald von 1936: "The testof afirst-rate intelligenceis the ability to hold two opposed ideas in the mindat the same time, and still retain the abilityto function." Die meisten kennen dieses Zitat; die wenigsten wissen jedoch, wie es weitergeht: "One should, for example, be able to see that things are hopeless and yet be determined to make them otherwise."[12]

            Für diesen Dialog rüsten uns Carsten Jensens Romane. Sie ergeben sich nie der Hoffnungslosigkeit, obwohl sie ihre Position gegen Gewalt und Fanatismus mit aller grafischen Deutlichkeit untermalen. Sie lehren uns die hohe Kunst des Perspektivwechsels, der Genauigkeit und der Differenzierung. Vor allem fordern sie uns die Art von Geduld und Aufmerksamkeit ab, die wir in Zeiten von auf 140 Zeichen beschränkte Kommunikation gerade verlernen. Es braucht Zeit, die knapp 2000 Seiten allein der drei oben genannten Romane zu lesen, aber wir lernen dabei, dass sich das Einlassen und Zuhören lohnt. Man muss vielleicht nicht wissen, was eine Brigg von einem Schoner unterscheidet und wie hoch die Großrahe eines Vollschiffs ist. Aber es lohnt sich, zu wissen, was Degaussing ist, und auch das bringt uns Jensen in Wir Ertrunkenen bei: es handelt sich dabei um ein Verfahren, benannt nach dem Mathematiker Carl Friedrich Gauß, mit dem Schiffe durch ein elektrisches Kabel entmagnetisiert werden, um vor Minen geschützt zu sein. Auch nach der Lektüre kann ich nicht behaupten, die Feinheiten elektromagnetischer Wechselwirkungen vollständig verstanden zu haben, aber diese Szene zeigt wunderbar, wie wir uns Welt über Literatur aneignen; wie gute Romane uns auf Entschleunigung verpflichten, um uns auf andere Sprachen und andere Register einzulassen. Weil es sich immer lohnt.

            Carsten Jensens Werk funktioniert wie Degaussing: durch die Gegenläufigkeit seiner narrativen Strömungen und die Widerständigkeit seiner Figuren verhindert es eine einheitliche Ausrichtung und schützt uns vor der magnetischen Anziehungskraft populärer und populistischer Positionen, auch und gerade dann, wenn sie Mehrheitspositionen sind. Der Autor verweist uns stattdessen auf eine andere Orientierungsmöglichkeit: den Kompass der Zivilcourage. Auf diesen jedoch muss man sich regelmäßig bewusst einnorden, um ihn verlässlich nutzen zu können, wenn Furcht um sich greift. Denn Furcht ist, wie wir wissen, grundsätzlich ein schlechter Berater. "Wenn ich schreibe," so sagt Carsten Jensen in einem Aufsatz über seine Recherchen in Afghanistan, "gewinne ich die Kontrolle zurück. Ich entdecke die Urfunktion der Sprache, die nicht nur aus Kommunikation zwischen Menschen besteht. Die Worte sind auch eine Beschwörung, die den Tod fernhält, nicht nur den Gedanken daran, sondern den Tod selbst in seiner plötzlichen Gewalt."[13]

***

Es erscheint daher angemessen, mit einem längeren Zitat zu einem dieser Tode zu schließen. Am Ende des Romans Rasmussens letzte Reise folgt die Narration abwechselnd dem ertrunkenen Maler einerseits, dessen Körper unter Wasser mit den ihn fressenden Makrelen und Sägerochen vereint wird, und seiner Witwe andererseits, die sich im sonnenhellen Leben an Land mit dem Verlust ihres Ehemanns arrangiert. Der Schluss des Romans folgt beiden über eine Zeitspanne von vierzig Jahren. "Carl hätte," so schreibt Jensen auf den letzten Seiten, "die Tiefseezone des Meeres entdeckt, wenn er noch in der Lage gewesen wäre zu sehen. Aber seine Augen gab es nicht mehr. […] Alles ist vorläufig, die Höhe eines Berges, die Kurve einer Küste, die Tiefe des Meeres. […] Die Kontinente fließen. Ein Menschenleben ist zu kurz. Dann ändert es sich wie eine Wolkenformation, von Stratus zu Stratokumulus, von Stratokumulus zu Zirrus, doch manchmal entstehen diese Augenblicke namenloser Ewigkeit."[14] Für diese Augenblicke ist die Literatur zuständig, und Schriftstellern gelingt es selten, sie so prägnant mit politischer Relevanz zu füllen. Nicht zuletzt aus diesem Grund heißt der Europa-Preisträger des Jahres 2018 Carsten Jensen.

[1] Die Autorin der Laudatio dankt neben dem Hochschulrat für die Stiftung des Preises besonders der internationalen Gruppe Studierender aus dem Seminar im BA-Studiengang "European Cultures and Society" zu "Transnational Perspectives on Europe", in dessen Rahmen wir den Roman Wir Ertrunkenen von allen Seiten beleuchtet haben: Colton Denton, Lasse Funck, Courtney Kees, Thilo Koch, Päivi Mure und Nortje Rübsamen. Außerdem danke ich meinem Kollegen Prof. Dr. Peter Heering für seine freundliche Bereitschaft, mir die physikalischen Details des Degaussing zu erklären.

[2] Radisch, Iris, und Adam Soboczynski. "‚Lieber Faust als Flüchtlingsperformance‘: Ein Gespräch mit der Autorin Thea Dorn über die Notwendigkeit eines neuen deutschen Kulturpatriotismus und die Bereitschaft, für seine Werte zu sterben." Die ZEIT 18 (26. April 2018).

[3] Jung, Jochen. "Aufs Meer! Ins Leben!" Die ZEIT 49 (27. November 2008).

[4] Bartmann, Christoph. "Die böse Truppe." Süddeutsche Zeitung (5. Juni 2017).

[5] Jensen, Carsten. Wir Ertrunkenen. München: btb, 2010. 786.

[6] Jensen, Wir Ertrunkenen, 802.

[7] Qtd. In Katzenbach, John. Just Cause. New York: Grove, 2014. 3.

[8] Jensen, Wir Ertrunkenen, 798.

[9] Jensen, Carsten. Rasmussens letzte Reise. München: btb, 2007. 29.

[10] Jensen, Carsten. Der erste Stein. München: Knaus, 2015. 631.

[11] Greiner, Ulrich. "Zweierlei Maß: Was Uwe Tellkamp in Dresden gesagt hat, war diskussionswürdig; es gibt keinen Grund, ihn in die rechte Ecke zu stellen." Die ZEIT 13 (22. März 2018). 46.

[12] Fitzgerald, F. Scott. "The Crack-Up." In: My Lost City: Personal Essays, 1920-1940. By F. Scott Fitzgerald. Ed. James L. W. West III. Cambridge: Cambridge University Press, 2005. 139. 

[13] Jensen, Carsten. "Der Tod ist unbarmherzig demokratisch – ebenso wie die Furcht vor ihm." Wespennest (Mai 2017). 33.

[14] Jensen, Rasmussens letzte Reise, 347.

Impressionen der Preisverleihung

Das Presse-Echo zum Europa-Preis 2018