Kalender des Seminars für Geschichte und Geschichtsdidaktik
Helfen, Selektieren, Fördern, Inkludieren – transdisziplinäre, regional- und wissensgeschichtliche Perspektiven auf Behinderung und Teilhabe im Schul- und Bildungssystem
Helfen, Selektieren, Fördern, Inkludieren – transdisziplinäre, regional- und wissensgeschichtliche Perspektiven auf Behinderung und Teilhabe im Schul- und Bildungssystem
Tagungszeit: 06.-07. März 2025
Tagungsort: Europa-Universität Flensburg, Gebäude Oslo, Raum 234
Im Rahmen gesellschaftlicher und pädagogischer Inklusionsinitiativen sowie politischer Reformbemühungen im Bildungssystem sind die Diskussionen um die Geschichte und Zukunft der Sonder- und Förderschulen wieder aufgenommen worden. Während diese Einrichtungen lange an den Rändern des Bildungssystems arbeiteten, in öffentlich-medialen Diskussionen lediglich eine marginale Rolle spielten und im Nationalsozialismus Teil des verbrecherischen Systems mit teilweise andauernden Kontinuitäten bis in die Bundesrepublik hinein waren, sind Förderschulen seit einiger Zeit vielfach in ‚inklusiven Schulen‘ aufgegangen (De-/Re-Institutionalisierung). Spätestens seit der Ratifizierung der UN-BRK im Jahr 2009 sind Inklusion und Teilhabe ‚in aller Munde‘. Mit den Struktur- und Prozessreformen der organisationalen Arrangements um ‚inklusive Bildung‘ ist auch ein Teil der Kinder und Jugendlichen z.B. mit gravierenden Lernschwierigkeiten und sozial-emotionalen Beeinträchtigungen, welche zuvor nahezu unsichtbar und marginalisiert waren, teilweise weiter in die Mitte des Bildungssystems und damit in diejenige der Gesellschaft gerückt. Diese wechselvolle Geschichte zwischen institutioneller Exklusion, Segregation, Integration und den Anstrengungen hin zu Inklusion hat schließlich dazu geführt, dass sich die historische, bildungs- und sozialwissenschaftliche Forschung diesem Themenfeld in den letzten Jahren verstärkt zugewandt hat.
Bislang wenig Aufmerksamkeit erhalten haben dabei insbesondere die Perspektiven behinderter Kinder, Jugendlicher und ihrer Familien, die jeweiligen institutionellen Eigenlogiken vor Ort bzw. in der Region, quartiersbezogene Effekte sowie interinstitutionelle Arrangements zwischen Schul- und Bildungssystem sowie Gesundheits- und Sozialsystem. In diesem Feld bewegt sich auch unser Tagungsanliegen. Der institutionelle Alltag, die jeweiligen Lebens- und Lernwelten beeinträchtigter bzw. als ‚behindert‘ gelabelter Kinder und Jugendlicher sowie der jeweilige institutionelle Umgang in den diversen Einrichtungen, die unter dem Signum der Sonderschulen geführt wurden, ist bisher ebenfalls nur unzureichend erforscht worden. Auch die auf institutionelle Gefüge blickende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und die Betrachtung von möglichen personellen, verwaltungslogischen und konzeptionellen Kontinuitäten, die staatliche Zäsuren überdauerten, ist noch nicht überall und erschöpfend untersucht worden. Darüber hinaus sind Studien, die transnationale Entwicklungen und Transfers im Bereich der Anstaltsschulen, der Hilfs- und Sonderpädagogik und ihrer Schulen über das 19. oder 20. Jahrhundert zum Gegenstand haben, kaum vorhanden. Für die Bundesrepublik fehlen zudem regionale und lokale Vergleiche, welche die verschiedenen institutionellen Entwicklungspfade, -routinen und -verzögerungen im föderalen Schulsystem untersuchen, das stets regionalen Ausprägungen und Temporalitäten unterlag. Auch regionale Besonderheiten im zentralistischen Sonderschulsystem der DDR sind kaum erforscht worden.
Tagungsprogramm:
Tag 1 | 6. März 2025
13:30-14:00: Karin Cudak, Sebastian Lotto-Kusche, Jens Gründler (Tagungsorganisation)
Einführung: Transdisziplinäre, regional- und wissensgeschichtliche Perspektiven auf Behinderung und Teilhabe im Schul- und Bildungssystem
Moderation: Gabriele Lingelbach (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel)
14:00 – 14:45: Edgar Sauerbier (Deutsche Sporthochschule Köln)
"Du hast Inklusion gemacht, als es das noch gar nicht gab." - Autoethnografische Epiphanien des Helfens, Selektierens und Inkludierens im Kontext einer bundesdeutschen Bildungsbiografie
14:45 – 15:30: Paula Mund (Universität Erfurt)
Stumm gemacht – Die Gehörlosenschulen in der DDR
15:30 – 16:00: Kaffeepause
16:00 – 16:45: Lisa Maria Hofer (Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim)
Die Schule, deine neue Familie in Stille. Wie aus dem "Taubstummeninstitut" Linz 1834 durch Elternvertretung ein Internat wurde
16:45 – 17:30: Lisa Sauer (Universität Erfurt)
Zuverlässig selektiert – Kinder im Hilfsschulaufnahmeverfahren in der BRD in den 1950er bis 1970er Jahren
17:45: Dagmar Hänsel (Universität Bielefeld)
Keynote: Die NS-Zeit in der Geschichtsschreibung der Sonderpädagogik
19:30: Abendessen
Tag 2 | 7. März 2025
Moderation: Marc Buggeln (Forschungsstelle für regionale Zeitgeschichte und Public History der Europa-Universität Flensburg)
9:00-9:45: Katharina Genz (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel)
"Bildungsfähig" oder "bildungsunfähig" – Selektionskriterien der NS-Rassenhygiene und die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche mit geistigen und körperlichen Behinderungen in Norddeutschland
9:45 – 10:30: Jens Gründler (LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte)
Same same? Das Personal der Taubstummen- und Blindenanstalten in Westfalen zwischen Nationalsozialismus und junger Bundesrepublik
10:30 – 11:00 Kaffeepause
11:00 – 11:45: Anne Otto / Sandra Wenk (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)
Zwischen Diagnosen von ‚Bildungsunfähigkeit‘ und der Bewahrung schulischer Ordnung. Ausschulungen aus der Hilfsschule in der frühen Bundesrepublik
11:45 – 12:30 Sebastian Lotto-Kusche (Forschungsstelle für regionale Zeitgeschichte und Public History der Europa-Universität Flensburg)
Sonder- und Hilfsschulwesen in Schleswig-Holstein im 19. und 20 Jahrhundert. Diskursverschiebungen und Ansätze einer neuen Institutionengeschichte
12:30 – 13:30 Mittagessen
13:30 – 14:15: Karin Cudak (Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst HAWK Hildesheim | Holzminden | Göttingen)
Pädagogik als Hilfe - sozialwissenschaftliche Reflexionen auf organisationale Arrangements um Hilfs- und Sonderschulen
14:15 – 14:30 Plenum
Tagungsabschluss