Suffizienz - die übersehene Strategie
Angesichts der russischen Invasion in der Ukraine und eines möglichen russischen Energie-Embargos wird aktuell in Politik und Zivilgesellschaft über Optionen für eine größere Unabhängigkeit von Gas-, Kohle- und Ölimporten aus Russland diskutiert. In Erwägung gezogen werden dabei:
- die kurzfristige - klimaschädliche - Aufrechterhaltung oder gar Steigerung der Erzeugung von Strom aus Kohle- und Atomkraft
- Verstärkte Importe fossiler Energieträger aus anderen Ländern (Saudi-Arabien, Norwegen etc.)
- Energieeffizienzprogramme in allen Sektoren
- Beschleunigter Ausbau der erneuerbaren Energien
Doch eine essentielle und sehr wirksame Strategie wird in der Debatte bisher weitgehend ausgeblendet: die Reduktion des Energieverbrauchs durch Suffizienz. Suffizienzpolitik beschreibt Maßnahmen, die ein gutes Leben mit weniger Nachfrage nach Energiedienstleistungen möglich machen.
Neben Klimaschutz und Energiesouveränität bieten Suffizienzmaßnahmen weitere Vorteile für Gesundheit, Umwelt, Ressourcenschonung, Lebensqualität und soziale Gerechtigkeit. Suffizienzmaßnahmen setzen Rahmenbedingungen für die Veränderung sozialer Praktiken und zielen darauf, übermäßigen Energieverbrauch durch veränderte Verhaltensweisen und Routinen zu etablieren. Die weniger energieintensive Handlung wird so zur attraktiveren oder naheliegenden Option. Suffizienz ist klar zu unterscheiden von Energiearmut, stattdessen adressiert Suffizienz übermäßigen Energieverbrauch. Suffizienzpolitik kann kurzfristig umgesetzt werden und zeigt sowohl kurz- als auch mittel- und langfristig Wirkung. Somit trägt sie zur kurzfristigen Erhöhung der Unabhängigkeit von russischem Gas und Öl bei, als auch zur sozial- und klimagerechten Energiewende.
Fünf Thesen zur Suffizienzpolitik
Als Beitrag zur Debatte für kurz- und langfristigen Klimaschutz und Versorgungssicherheit hat die Nachwuchsgruppe Energiesuffizienz hier fünf Thesen zu Suffizienzpolitik zusammengestellt.
Suffizienz ermöglicht Energiesouveränität, Versorgungssicherheit und Klimaschutz
Jede nicht verbrauchte Kilowattstunde stärkt die Unabhängigkeit von Gas, Kohle und Öl aus Russland und anderen Teilen der Welt und damit die Versorgungssicherheit. Zugleich sinken die Treibhausgasemissionen, was auch eine sicherheitspolitische Dimension hat, da die Klimakrise ein wichtiger Auslöser und Treiber von Flucht, Vertreibung und Krieg ist und zunehmend sein wird. Nicht zuletzt kann durch einen sinkenden Energieverbrauch auch eine 100-prozentig klimaneutrale Energieversorgung schneller erreicht werden. Dies reduziert die Importabhängigkeit von Rohstoffen und Energieträgern, deren Gewinnung in zahlreichen Fällen sowohl ökologische als auch soziale Probleme verursachen.
Suffizienz reduziert Abhängigkeit von vermeintlichen Optionen Kohle und Atom
Die diskutierte Laufzeitverlängerung von Kohle- und Atomkraftwerken schafft keine Energiesouveränität und ist mit Klimazielen unvereinbar. Sowohl Steinkohle als auch Uran werden zu 100 Prozent importiert, wobei Steinkohle gegenwärtig zu großen Teilen aus Russland kommt. Das langfristige Ausstiegsziel aus der Nutzung von Kohle ist für die heutige Versorgungssicherheit irrelevant und sollte daher nicht angetastet werden. Eine Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke scheint aus technischen, personellen und administrativen Gründen nicht realistisch und sinnvoll. Auch der Umstieg auf LNG (Liquefied Natural Gas) stellt keine elegante Alternative dar. Es ist kurzfristig in Deutschland nur begrenzt nutzbar und birgt die Gefahr einer fossilen Lock-In Situation. Überdies hat es eine hohe Klimawirkung, nicht allein durch die Verbrennung, sondern auch aufgrund zusätzlicher Emissionen des klimaschädlichen Methans bei der Gewinnung und Transport.
Energiesuffizienz birgt kaum Risiken, aber hohe Einsparpotentiale
Suffizienz verfolgt einen sehr simplen und risikoarmen Weg: den des Weglassens. Eine Reduktion des Energiebedarfs führt zu weniger Nachfrage und somit zu niedrigeren Preisen. Am Beispiel einfacher Rechnungen aus dem Wohn- und dem Mobilitätsbereich lässt sich das große Potential verdeutlichen: Im Wohnbereich wächst die Wohnfläche pro Kopf seit Jahrzehnten kontinuierlich und trägt damit zum anhaltend hohen Bedarf für Raumwärme bei, der daher trotz hoher Effizienzstandards im Neubau und Gebäudedämmung bisher nicht wesentlich sinkt. Würde man die individuelle Wohnfläche auf den Zustand des Jahres 2000 reduzieren, ließe sich der Energiebedarf für Raumwärme um rund 17 Prozent und der Gasimport aus Russland um rund 8 Prozent senken – ganz ohne Risikotechnologie und Umweltschäden. In den vergangenen zehn Jahren ist der PKW-Bestand in Deutschland um rund 20 % und die gefahrenen Personenkilometer mit dem Auto um rund 10 %gestiegen. Würde man 90 Prozent der Autofahrten unter 10 Kilometern einsparen, indem Städte und Gemeinden autoarm, fahrrad-, fuß- und ÖPNV-freundlich gestaltet würden, ließe sich der Treibstoffbedarf um 14 Prozent senken – ohne zusätzliche Spareffekte durch eine potentiell sinkende Autobesitzrate und die veränderte Verkehrsmittelwahl für Langstrecken mit einzurechnen.
Suffizienzmaßnahmen können sofort starten - Beispiele Mobilität und Wohnen
Suffizienz bedarf vielfältiger politischer Rahmenbedingungen, bestehend aus finanziellen Anreizen, Ordnungspolitik und Informationskampagnen. Neben den Milliarden für erneuerbare Energien und Effizienz sowie dem Auslaufen fossiler Technologien ist ein Sofortprogramm für Energiesuffizienz nötig. Manche Maßnahmen können sofort wirken wie ein Tempolimit, Verlängerung der Home-Office-Option für Arbeitnehmer*innen, Verbot von Kurzstreckenflügen, Info-Kampagne zu Energiesparoptionen und aktiver Mobilität, autofreie Tage. Andere können sofort angegangen werden, direkte Wirkung durch das Signal der Bedeutung von Suffizienz zeigen und mittel- und langfristig wirken: Ein Sofortprogramm für den Umbau der Städte zu 15-Minuten Städten, wie es in Paris geschieht, sowie für den Ausbau von Fahrrad-, Fuß-, und ÖPNV-Infrastruktur. Es bedarf auch gesetzlicher Änderungen, die es Kommunen erleichtern, Straßen verkehrszuberuhigen. Subventionen wie die sogenannten Diesel- und Dienstwagenprivilegien oder die Pendlerpauschale müssen in nachhaltige und energiesparende Verkehrsmittel umgelenkt werden. Es bedarf eines Moratoriums für den Ausbau von Flughäfen und Autobahnen und eine Kerosinsteuer. Die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene und der Ausbau der Bahninfrastruktur müssen stärker gefördert werden. Eine Deckelung der Benzin- und Dieselpreise wäre hingegen ein falsches Signal. Vielmehr müssen alternative Mobilitätsformen ermöglicht und kurzfristig gezielt soziale Härten abgefedert werden.
Einen Deckel braucht es hingegen an anderer Stelle: Statt steigende Mieten mit Neubau zu bekämpfen, braucht es einen bundesweiten Mietendeckel. Denn anders als bei steigenden Benzinpreisen, die zu einer Reduktion des Energieverbrauchs beitragen, treiben steigende Mieten den Wunsch nach Neubau und damit den Energiebedarf. Statt Neubau sollte der Umbau und die Sanierung von Wohnungen gefördert werden. Eine stärkere Regulierung des Wohnungsmarktes, Umzugsprämien und entsprechende Beratungsangebote können den Umzug in kleinere Wohnungen (z. B. nach Auszug der Kinder) erleichtern.
Suffizienzpolitik ist mutig und lohnenswert
Konsequente Suffizienzpolitik greift in unser Alltagsverhalten ein, indem sie den Rahmen, die Infrastrukturen und Anreize für ein energiesparendes gutes Leben schafft. Die deutliche Veränderung des Rahmens mag einer der Gründe sein, warum vielen Politiker*innen bisher der Mut zur Umsetzung fehlt. Die aktuellen Krisen verändern das gewohnte Leben jedoch in weit stärkerem Maße als es die Regulierungen tun, und zwar in Richtung einer Verringerung der Lebensqualität. Gut durchdachte und kommunizierte Suffizienzpolitik kann hingegen neben Klimaschutz und Versorgungssicherheit auch zu mehr Lebensqualität führen. So kann der allgegenwärtige Wandel "by design" und nicht "by desaster" gestaltet werden.
Eine Sammlung von knapp 300 möglichen Suffizienzmaßnahmen sowie konkrete Gesetzesvorschläge dazu liegen bereits auf dem Tisch.
Nachwuchsforschungsgruppe “ENSU – Die Rolle von EnergieSuffizienz in Energiewende und Gesellschaft”
Jun.-Prof. Frauke Wiese
Juniorprofessorin im Bereich "Transformation der Energiesysteme" in der Abteilung Energie- und Umweltmanagement der Europa Universität Flensburg
Dr. Benjamin Best
Senior Researcher im Forschungsbereich "Strukturwandel und Innovation" des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie
Carina Zell-Ziegler
Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich "Energie & Klimaschutz" des Öko-Institut e. V., Büro Berlin
Johannes Thema
Researcher im Forschungsbereich "Energiepolitik" des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie
Jonas Lage
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Norbert-Elias-Center der Europa Universität Flensburg
Luisa Cordroch
Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Energie- und Umweltmanagement der Europa Universität Flensburg
Bendix Vogel
Projektassistenz in der Abteilung Energie- und Umweltmanagement der Europa Universität Flensburg
Wissenschaftliche Ansprechpartnerin:
Prof. Dr.Frauke Wiese
Norbert Elias Center for Transformation Design & Research (NEC)
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