Termine des Projekts ViNoRHM

Sichtbare und ‚unsichtbare‘ Sprachen in regionalen Alltagssprachen: Das Herzogtum Schleswig im 19. Jahrhundert


Universität Passau

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Dr. Samantha M. Litty reist nach Passau um an der  Jahrestagung der Gesellschaft für Germanistische Sprachgeschichte (GGSG) teilzunehmen. 

Sichtbare und ‚unsichtbare‘ Sprachen in regionalen Alltagssprachen: Das Herzogtum Schleswig im 19. Jahrhundert

Samantha M. Litty

Europa-Universität Flensburg

Als Ansatzpunkt zielt dieses Projekt auf eine umfassende Darstellung der historisch im Herzogtum Schleswig verwendeten Sprachen. In dieser Region, gekennzeichnet durch die alltäglichen "Fünfsprachigkeit", wurden mehrere Varietäten, der fünf genannten Sprachen (Hochdeutsch, Niederdeutsch, Sønderjysk, Rigsdansk und Nordfriesisch) gesprochen. Dieses Projekt bricht mit dem in den letzten Jahren – besonders in der west-europäischen historische Soziolinguistik – zum Standard gewordene Datentyp der Ego-Dokumente (cf. Elspaß 2005, 2012; Van der Wal & Rutten 2013; Rutten et al. 2014) und bezieht sich auf alternative Datentypen, woraus spezifische individuelle und breitere gesellschaftliche Informationen zum Sprachgebrauch gezogen werden können (Elspaß 2019, Schiegg 2021). Die Daten für dieses Projekt stammen aus den unterschiedlichen Archiven der Region, z.B. Dienstbücher und Stammbücher aus der Dansk Centralbibliothek in Flensburg, Familiennachlässe aus dem Kirchspiel-Archiv Langballig und ein Gästebuch aus dem Archiv des Nordfriisk Instituuts in Bredstedt. Präliminäre Aufarbeitung bestätigen Hochdeutsch und Rigsdansk als primäre Schriftsprachen, weisen aber auf Forschungspunkte der unsichtbaren regionalen Sprachen.

Im 19. Jahrhundert wurden im Herzogtum Schleswig die gesprochenen Varietäten (L-Varietäten) oft durch die geschriebenen Varietäten (H-Varietäten) ‚unsichtbar‘ gemacht (Langer & Havinga 2015). D.h., die gesprochene Sprachvarietäten, die die Muttersprache der meisten Menschen in der Region waren, wurden nicht geschrieben und sind in den meisten Fällen aus dem 19. Jh. nicht erhalten. Die Frage des Sprachgebrauchs wird manchmal in offiziellen Dokumenten direkt diskutiert, wie Thomsen (2022) in ihrer Aufarbeitung des Sprachenstreits an der so genannten "Irrenanstalt bei Schleswig" in den Jahren 1855 und 1861 zeigt. In dem Diskurs, der vorgeblich eine bessere Versorgung von Patient*innen durch Dänisch resp. Deutsch sprechende Ärzte zum Thema hatte, spielte Niederdeutsch eine Rolle als eigene Sprache, Sønderjysk aber wurde unter Dänisch subsumiert und Friesisch explizit ignoriert (1):

(1)        Die Zahl der Kranken mit friesischer

           Muttersprache ist so gering, daß sie

           hier nicht in Betracht kommen

           kann. 

Es werden auch in informellen Texten, auch solche, die von weniger gebildeten oder wenig geübten Schreibern stammen, metasprachliche Kommentare und Zitate in und zu den ‚unsichtbaren‘ Sprachen in den ansonsten standardsprachlich geschriebenen Texten gefunden, wie folgender Eintrag in (2) aus dem Ranzelberg Gästebuch, worin der Schreiber sich als Friesen bekennt.

(2)       […] Hab‘ ich nichts, hab ich gar nichts gerettet, 

           Als die Ehr u. mein friesisches Haupt.

Aus diesem Text stammen auch Einträge, die kommentarlos niederdeutsche Inschriften enthalten, wie in (3).

(3)       PJPeters aus Hennstedt in NDithmar

            schen reiset als unentschwänzter Fuch

            von Tondern nach der Heimath.

            Ut de Kruk löpt Alles herut

Obwohl beide Schreiber in (2) und (3) primär auf Hochdeutsch schreiben, deuten ihre Aussagen (2) oder der Gebrauch einer der regionalen Sprachen (3) auf die sonst ‘unsichtbaren’ Sprachen der Region hin. Durch die Verarbeitung alternativer Datentypen kommen Beispiele des täglichen Sprachgebrauchs zum Vorschein, so dass wir mit ihnen näher an die Beantwortung der Frage "Wie und von wem wurden regionale Varietäten historisch verwendet?" kommen können. Wo Sprachgeschichtsschreibungen traditionell politisch motiviert sind, überschreitet dieses Projekt die politischen und sozialen Grenzen, um die Sprachgeschichte der Grenzregion zu erforschen, durch Daten die auf dem tatsächlichen Sprachgebrauch basiert sind, und welche sich nicht auf historische (ideologische) oder politische Behauptungen stützen. Dadurch werden nicht nur die ‚unsichtbaren‘ Sprachen dieser Region zum Vorschein gebracht, sondern es rückt auch die Sprachgeschichtsschreibung mehrsprachiger Regionen in den Vordergrund. 

Literaturverzeichnis

Elspaß, Stephan. 2005. Sprachgeschichte von unten: Untersuchungen zum geschriebenen Alltagsdeutsch im 19. Jahrhundert. Berlin: Walter de Gruyter.

Elspaß, Stephan. 2012. The use of private letters and diaries in sociolinguistic investigation. In Juan Manuel Hernández-Campoy & Juan Camilo Conde-Silvestre (eds.), The handbook of historical sociolinguistics. Oxford: Wiley-Blackwell. 156-169.

Elspaß, Stephan. 2019. Alternative sources of data for alternative histories of standardisation. Lang Policy 19. 281–299.

Langer, Nils, & Anna Havinga. 2015. Invisible languages in historical sociolinguistics: A conceptual outline, with examples from the German-Danish borderlands. In Havinga, Anna & Nils Langer (eds.), Invisible languages in the 19th century. Bern: Peter Lang. 1-34.

Rutten, Gijsbert & Marijke J. Van der Wal. 2014. Letters as Loot: A sociolinguistic approach to seventeenth- and eighteenth-century Dutch. (Vol. 2). Amsterdam: John Benjamins.

Thomsen, Ilka. 2022. Angewandte Sprachenpolitik im Herzogtum Schleswig: Die Sprachenfrage an der "Irrenanstalt bei Schleswig" 1852-1864. MA Arbeit. Europa-Universität Flensburg.

Schiegg, Markus. 2021. Variation and change in idiolects: Tracing a lexical substitution inside a psychiatric hospital around 1900. Yearbook of the German Cognitive Linguistics Association. 9(1). 35-46.

van der Wal, Marijke J., & Gijsbert Rutten (eds.). 2013. Touching the past: Studies in the historical sociolinguistics of ego-documents. Amsterdam: John Benjamins.

Veranstaltungsort

Name
Universität Passau
Ort
94032 Passau
Homepage
https://www.geku.uni-passau.de/deutsche-sprachwissenschaft