Internationaler Workshop "Kindheit, Bildung, Ethnographie"

Dr. Christos Varvantakis von der Universität Sussex, England zu Gast am ZeBUSS

Dr. phil. Christos Varvantakis, Anthropologe und Kindheitsforscher der University of Sussex, war am 11. und 12. Mai 2016 zu Gast am ZeBUSS. Im Zuge der Campusgespräche hielt er einen Vortrag mit dem Titel "Everyday Childhoods: Doing ethnography with children in the family", in dem er erste Ergebnisse einer ERC-geförderten vergleichenden Längsschnittstudie (The Connectors Study) präsentierte. In der Studie wird den vereinzelten bzw. konkreten politischen und gesellschaftlichen Ereignissen (Entscheidungen im Nahraum, mikro-soziales Erleben von globalen Krisen etc.) unter der Perspektives des Verständnisses, der Bedeutungszuschreibung und Aneignung durch die Kinder nachgegangen. Dies war ein gelungener Auftakt für einen am folgenden Tag im Rahmen der Nachwuchsförderung durchgeführten Workshop. Ziel des Workshops war es, ein umfassendes ethnografisches Forschungsdesign kennenzulernen und Fragen zur Ethnografie mit einem internationalen Experten zu diskutieren. Varvantakis stellte Material aus seinen ethnografischen Erhebungen zum Aufwachsen von Kindern im Alter von 6-9 Jahren in Athen, Griechenland, vor. Ziel von The Connectors-Study ist es, Erkenntnisse über die Herausbildung von Orientierungen von Kindern in Bezug auf soziales Handeln zu generieren. Dies bezieht beispielsweise mit ein, wie sich bei Kindern ein Bewusstsein über soziale Belange herausbildet und wie soziale und persönliche Werte und Haltungen bei Kindern entstehen.

Der Fokus der Studie ist an Fragen von Partizipation und sozialem und politischem Aktivismus ausgerichtet. Die Perspektive der Kindheitsforschung wird dabei in besondere Weise gestärkt, als dass davon ausgegangen wird, dass Praktiken und Orientierungen von Partizipation und Aktivismus nicht erst bei Jugendlichen auftauchen, sondern es einer Erklärung bedarf, wie sich diese Orientierungen und Einstellungen bereits in der Kindheit im Sinne sozialer Zusammenhänge entwickeln. Damit kritisieren Varvantakis und seine Kolleginnen und Kollegen die stark entwicklungspsychologisch geprägte Perspektive auf Kinder und Kindheit und deren einseitige sowie normierte Beschreibung der Moralentwicklung. Gleichzeitig wurde in der Darstellung der verwendeten Methoden deutlich, dass Forschungen mit Kindern immer auch Wissen über Beziehungsnetzwerke, deren sozialen Nahraum und ihren Eltern generiert. Kindheitsforschung ist damit immer auch Familienforschung.

Christos Varvantakis lieferte Einblicke in dichte Beschreibungen unterschiedlicher Fallstudien. Dabei vermittelte er, dass Ethnografien nicht nur eine Beschreibung von Kindern oder des Kindes sind, sondern sich die Ausgangshypothese des Projektes nach der Teilhabe der Kinder als Feldlogik wiederspiegelt. Die Ethnografien werden zunehmend auch zu Beschreibungen mit Kindern. Die rückfragende Auseinandersetzung mit den Kindern über die Methode der teilnehmenden Beobachtung, die Fragen der Kinder danach, wer der/die Urheber_in des Textes der Beschreibung ist und wie mit den Fotografien und Zeichnungen die von ihnen, den Kindern, angefertigt wurden, umgegangen wird, eröffnen in der Auseinandersetzung mit den Ethnograf_innen weitere Perspektiven auf die Fragestellung des Projektes. Dies führte das Forscherteam von The Connectors Study auch dazu, die Kinder in die Datenauswahl und damit auch in die Auswertung und Analyse der Daten mit einzubeziehen. Ingold bezeichnet diese Art der Ethnographie als "practice in its own rights – a practice of verbal description". Die Verdichtung der gewonnenen Daten erfolgt im Sinne einer dichten Beschreibung (nach Geertz). Die Frage "What is Ethnography?" wird dabei immer wieder erneuert und blieb auch für den Workshop die zentrale Frage. Insofern es im Projekt einerseits darum geht, die sozialen Faktoren für Aktivismus bei Kindern zu bestimmen, stellt sich die Frage scheinbar nach den Institutionen (insbesondere der Schule und der Familie). Um jedoch bei einer Ethnografie zu bleiben ist es wichtig, weiterhin auf die Kinder einzugehen und nach ihren Perspektiven und Relevanzsystemen zu fragen. Ein "getting engaged with the child" und die Frage danach "What things matter to you?", ermöglichen die Rekonstruktion aus der Perspektive der Kinder.

Der von der Professur für die Theorie der Bildung des Lehrens und Lernens in Kooperation mit dem ZeBUSS gestaltete Workshop wurde von den 11 Teilnehmerinnen und Teilnehmern (Promovierende, Postdoktorandeninnen und -doktoranden der der EUF) sehr gut aufgenommen. Es hat sich dabei gezeigt, dass die Ethnografie auf ein breites Interesse innerhalb verschiedener Fachrichtungen (Erziehungswissenschaft, Schulpädagogik, Psychologie und Humangeographie) stößt. Die besondere Möglichkeit mit dem Referenten in einem kleineren Kreis in Gespräche einzusteigen, eröffnete den Teilnehmenden vertiefende Einblicke in die Anbahnung, Bewilligung und Durchführung der Studie.

Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zeigten sich eine Reihe von Anschlüssen an die Methoden der Kindheitsforschung, wie sie im deutschsprachigen Raum diskutiert werden (Honig/Lange/Leu). Die Fokussierung auf die Perspektiven von Kindern auf die sie umgebende erwachsene Welt (Heinzel) und die Frage nach dem Erleben der (gesellschaftlichen) Moderne (Zeiher/Zeiher) wird durch The Connectors Study erweitert. Dieses praktische Beziehungsgefüge aus Aneignungsverhalten, Deutung und Umdeutung von Räumen und Ereignissen bei gleichzeitiger institutioneller und institutionalisierter (Ver)Ordnung (Familie, Schule, Wohnen) bringt eine Erweiterung der Perspektive auf Kinder und Kindheit hervor und rückt Prozesse sozialer Koproduktion (Bittner/Varvantakis) in den Blick.

Bisher wurden nur wenige Theoretisierungen im Projekt vorgenommen. Verschiedene Ansätze wurden jedoch im Zuge des Workshops diskutiert. So könnte die Ausgestaltung der ethnografischen Forschung in ihrer Anwendung verschiedener "Tasks" (die Aufgabe für die Kinder, Fotografien, Zeichnungen und Erzählungen auszuführen) mit Bezug auf die Cultural-Historical Activity Theory interpretiert und dadurch transformatorische Prozesse erfasst werden (vgl. Vygotsky sowie Selau/Fonseca de Castro). Die vorgenommene Verknüpfung psychologischer und gesellschaftlicher sowie raumtheoretischer Fragen innerhalb der The Connectors Study erinnert zudem an Perspektiven der ethnografischen Kindheitsforschung, die sich mit Aneignungsweisen des öffentlichen Raumes beschäftigt haben (vgl. Muchow/Muchow). [1] 

Dr. Martin Bittner

Ergänzende exemplarische Literatur

  • Bittner, Martin/ Varvantakis, Christos. Coproduction of social inequality – Ethnographic descriptions from insight the family. (In Vorbereitung)
  • Geertz, Clifford (2003). Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. 2. Aufl. Suhrkamp: Frankfurt
  • Heinzel, Friederike (Hrsg.) (2000). Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive. Juventa Verlag: Weinheim und München.
  • Honig, Michael-Sebastian/Lange, Andreas/ Leu, Hans-Rudolf (Hrsg.) (1999). Aus der Perspektive von Kindern? Zur Methodologie der Kindheitsforschung. Juventa Verlag: Weinheim und München.
  • Ingold, Tim (2008). Anthropology is Not Ethnography. Proceedings of the British Academy, 154, 69-92.
  • Muchow, Martha/Muchow, Hans Heinrich (2012). Der Lebensraum des Großstadtkindes. Herausgegeben von Imbke Behnken und Michael-Sebastian Honig. Neuausgabe. Beltz Juventa: Weinheim und Basel.
  • Selau, Bento/Fonseca de Castro, Rafael (eds.) (2015). Cultural-Historical Approach. Educational research in different contexts. ediPUCRS: Porto Alegre.
  • Vygotsky, Lev S. (1978) Mind in Society. Harvard University Press: Cambridge, MA.
  • Zeiher, Hartmut J./Zeiher, Helga (1998). Orte und Zeiten der Kinder. Soziales Leben im Alltag von Großstadtkindern. 2. Aufl. Juventa Verlag: Weinheim; München.

[1] Ich danke Nora Weuster und Miriam Mai für eine kritische Lektüre des Berichts.