Herbstsemester 2022 - "unsagbar"

Unsagbarkeit kann verschiedene Ursachen haben – naheliegend ist auf der einen Seite das unsagbar, was sich nicht in Worte fassen lässt. Als Beispiel lässt sich hier etwa der Geschmack anführen – wir haben schlicht keine Worte, um die mit einem guten Essen verbundenen sinnlichen Eindrücke entsprechend zu kommunizieren und können allenfalls in Analogien sprechen. Daneben gibt es auch eine Unsagbarkeit, die mit dem nicht Verstehen verbunden ist – Wittgensteins Aussage "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt." illustriert derartige Schwierigkeiten und deren Konsequenz. Diese Arten der Unsagbarkeit ist einige, aber nicht die einzigen Themen dieser Ringvorlesung.

Uns interessiert vielmehr genauso, wie und warum grundsätzlich in Worte zu fassendes dennoch in einzelnen Wissenschaftsdisziplinen zu etwas Unsagbarem deklariert wird. Hier wird das unsagbare als solches ja erst gesetzt und somit zu einem solchen gemacht – "das ist nicht relevant für uns," "das sagt man nicht," "das kann man so nicht sagen" können für das Resultat dieses Prozesses stehen. Hier stellt sich zum einen die Frage, wer "man" ist, und zum anderen, wer warum die Macht für derartige Festlegungen hat – und diese (warum?) auch setzt.

Mit dieser Ringvorlesung möchten wir dazu einladen, einige Grenzen auszuloten, die sich der Wissenschaft stellen: Was ist Sagbar innerhalb der Disziplin, was ist unsagbar, was unsäglich und wo versagt die Disziplin vor Fragen – vielleicht auch, weil diese außerhalb des Gegenstandsbereichs dieser Fragen liegen. Wie verändert sich das, was sagbar ist, wie wird ehedem sagbares zu unsagbaren/unsäglichem, und wie wird unaussprechliches vielleicht doch Teil des wissenschaftlichen Diskurses? Dies sind Fragen, mit denen wir uns in dieser Ringvorlesung beschäftigen werden.

Termine

26.09.

Prof. Dr. Karsten Mackensen

(Abteilung Musik)

Musik des Menschen – jenseits des Menschen. Die magische Kosmologie der Musik

Wenn heutzutage von der "Magie der Musik" die Rede ist, handelt es sich oft um einen Gemeinplatz, der eigentlich nichts Konkretes bedeutet, vielleicht mit einem leicht nostalgischen oder romantischen (um nicht zu sagen kitschigen) Beigeschmack. Aber über Jahrhunderte war mit der Idee etwas sehr Konkretes verbunden, nämlich die Vorstellung eines buchstäblich kosmischen, durch Harmonie und Musik hergestellten, magischen Zusammenhangs aller Dinge – der kleinen Dinge auf der Erde und der großen Dinge im Kosmos und noch jenseits davon. Die Musik der Menschen reicht in einer solchen Vorstellung weit über den Menschen hinaus. Musik ist ein magisches Medium, das alle Seinsbereiche miteinander in Resonanz bringt und zu Gebieten hinführen kann, die weit jenseits des in Worten Begreifbaren liegen. Der Vortrag geht dieser Vorstellung an ausgewählten Beispielen nach, die aus der Gegenwart zunächst ins Mittelalter zurückführen. Ob dies auch mit unserer Zeit noch etwas zu tun hat?

10.10.

Dr. Rebekka Rohleder

(Seminar für Anglistik und Amerikanistik)

Über Armut sprechen / nicht sprechen: Austeritätspolitik und die Folgen in der britischen Debatte

In den letzten Wochen sind Armut und Ungleichheit in Großbritannien vor allem im Kontext der vom neuen Finanzminister geplanten Steuersenkungen für Wohlhabende zu Zeiten von Inflation und Energiekrise in der Diskussion gewesen. Schon lange vor den aktuellen Krisen jedoch ist Armut im Zusammenhang mit Austeritätsproblemen ein Thema – das aus medialen Außenperspektiven verhandelt wird, jedoch auch von Betroffenen selbst. Dabei wird das Unsagbare selbst immer wieder zum Thema – nicht das, was in den entsprechenden Texten ganz abwesend ist, sehr wohl jedoch die Grenze zwischen dem, was erzählbar ist und dem, was es nicht ist. Dabei ist das, was nicht sagbar ist, immer an den jeweiligen Kontext gebunden: wer es sagt, wem zugehört wird oder nicht, an welchem Punkt in jemandes Biographie etwas gesagt wird, und vor was für einem Publikum. Es hat dabei konkrete Folgen, die in den Texten ebenfalls sichtbar werden, wenn etwas nicht sagbar ist. Die beiden Beispiele, die ich in der Vorlesung besprechen werde, sind erstens diverse Texte von Jack Monroe, bekannt durch das Kochbuch A Girl Called Jack von 2014 und vor allen Dingen durch langjährigen Aktivismus zum Thema food poverty, ein Aktivismus, der dezidiert aus der Position eines selbst betroffenen alleinerziehenden Elternteils stattfindet. Und zweitens werde ich mir Kerry Hudsons autobiographisches Buch Lowborn ansehen, einen Text von 2019, der zum Teil Kindheitsgeschichte ist, zum anderen Teil aber auch die Entstehensbedingungen der autobiographischen Erzählung selbst bespricht, vor allem die Schwierigkeit sogar von inzwischen überwundener Armut zu erzählen. Beide thematisieren ständig die Position, aus der sie selbst über Armut sprechen, und die Schwierigkeiten, die das aus verschiedenen Gründen bereitet.

24.10.

Prof. Dr. Christiane Reinecke

(Seminar für Geschichte und Geschichtsdidaktik)

Unsagbar geworden? Zum Reden und Nichtreden über "Rasse" und "Rassismus" seit den 1950er Jahren

Für die postnationalsozialistische und postkoloniale Bundesrepublik ist wiederholt behauptet worden, dass die Verwendung des ‚Rasse‘-Begriffs dort nach 1945 vergleichsweise schnell tabuisiert worden sei - und rassistische Positionen damit letztlich unsagbar geworden seien. Diese Behauptung ist allerdings gerade in den letzten Jahren für zahlreiche Wissensfelder und Gesellschaftsbereiche widerlegt worden. Die lange Wirkkraft kolonial geprägter Machtverhältnisse rückt zunehmend in den Blickpunkt auch deutscher Debatten, und eine Reihe von neueren historischen Studien zeigen, dass Formen des racialist thinking im Nachkriegsdeutschland keineswegs einfach verschwanden. Mit diesen Debatten und den sich wandelnden Formen des Redens und Nichtredens über "Rasse" und race befasst sich der Vortrag.

07.11.

Prof. Dr. Friederike Rückert

(Abteilung Kunst und visuelle Medien)

All eure Vorstellungen über Einhörner sind falsch. Wie Bilder Wirklichkeit schaffen

Wie sieht ein Einhorn aus? Davon haben wir eine mehr oder weniger klare Vorstellung. Am wichtigsten ist sicher das Horn in der Stirnmitte. Ohne das geht es nicht. Aber viele Einhörner sind darüber hinaus Schimmel und haben eine wunderschön wallende Mähne, die auch noch meist in den Farben eines Regenbogens schimmert. Zudem wissen wir, dass Einhörner über magische Eigenschaften verfügen und nur für Menschen erkennbar sind, die ein reines Herz haben.

Obwohl in uns allen ein reines Herz schlägt und wir mit dem Erscheinungsbild des edlen Wesens bestens vertraut sind, fehlt die Begegnung mit einem echten Einhorn in unserer Lebenserfahrung. Denn: Einhörner gibt es nicht. Trotzdem ist das Einhorn allgegenwärtig: ob als Kuscheltier, als Abbildung auf Duschgel, Schokolade oder Einkaufstaschen oder als animierte Held:in auf dem Bildschirm.

Ausgehend von dem Phänomen Einhorn, insbesondere den omnipräsenten visuellen Repräsentationen des mythischen Tieres, wird im Vortrag die Frage verfolgt, inwiefern Bilder Wirklichkeit abbilden oder diese erst schaffen, welche besondere Bedeutung Bildern in unserem täglichen Leben zukommt und was die Schlüsselkompetenz Visual Literacy dazu beitragen kann, nicht zu sehr auf das Zusammentreffen mit einem echten Einhorn zu hoffen.

21.11.

Prof. Dr. Ralf Wüstenberg

(Seminar für evangelische Theologie und European Wasatia Graduate School for Peace and Conflict Resolution)

Von Konfliktlösung und Versöhnung in ‚unsagbar‘ schwierigen Zeiten – Eindrücke aus dem israelisch-deutsch-palästinensischen Promotionsprogramm der Europa-Universität Flensburg

Angesichts der jüngsten Entwicklungen in Nahost scheint ein Frieden zwischen Israelis und Palästinensern wieder in weite Ferne gerückt, ja ‚unsagbar‘ schwer. Und dennoch gibt es Zeichen der Hoffnung: junge Promotionsstudierende aus Nahost, die gemeinsam auf dem Flensburger Campus über Versöhnung nachdenken. Das trilaterale Promotionsprojekt der European Wasatia Graduate School der Europa-Universität Flensburg mit der Maecenata Stiftung als Partner richtet sich an Promotionsstudenten aus Israel und den palästinensischen Gebieten. Motivation für das Projekt ist, dass diplomatische Lösungsansätze für den Nahostkonflikt nur im Prozess der Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern fruchtbar sein werden. Das Programm möchte den Teilnehmern in einer Mischung aus interdisziplinären akademischen Inhalten und praktischen Elementen das Handwerkszeug nahe bringen, die als Ziele eine Aussöhnung und Überwindung der tiefgehenden Konflikte haben. Am Abend werden der bekannte Nahost-Experte und langjährige Leiter des Hamburger Orient-Instituts Prof. Udo Steinbach sowie auch Promovierende der European Wasatia Graduate School zum Thema beitragen.

05.12.

Dr. Sibylle Machat

(Seminar für Anglistik und Amerikanistik)

Ein unsagbares Schicksal: die Suche nach der Franklin-Expedition

Am 19. Mai 1845 stechen in Greenhithe, England, zwei Schiffe in See - es sind HMS Erebus und Terror. An Bord: 134 Seeleute unter dem Kommando von Sir John Franklin, auf der Suche nach der legendären Nordwestpassage. Einige Briefe von Bord erreichen in den kommenden Monaten England und Ende Juli 1845 werden die beiden Schiffe noch einmal von Walfängern in der Baffin Bay gesichtet. Danach, trotz zahlreicher Suchfahrten: keine Nachricht, keine Spur. Nichts.

So schreibt am 21. Oktober 1854 die Times in London über eine solche Suchexpedition: "Von Franklin und seiner Besatzung wurden keine Spuren gefunden, wie auch nicht anders zu erwarten - kein Schiff hat die Nordwestpassage bewältigt ... [...] Diese Resultate sind nicht das, was man sich gewünscht hätte, aber sicherlich alles, was man erwarten konnte."

Zwei Tage später sieht die viktorianische Welt anders aus – ein Bericht des erfahrenen Polarforschers und Arztes Dr. John Rae wird (ebenfalls in der Times) veröffentlicht. In ihm steht: "In der Pelly-Bucht traf ich auf [Inuit], von einem von ihnen erfuhr ich, dass eine Gruppe von weißen Männern etwas weiter westlich von dort verhungert war, unweit eines großen Flusses mit vielen Wasserfällen und Stromschnellen. Weitere Angaben wurden eingeholt und eine Reihe von Gegenständen erworben, die das Schicksal eines Teils, wenn nicht aller der damaligen Überlebenden aus Sir John Franklins lange verschollener Expedition zweifelsfrei belegen - ein Schicksal, das so schrecklich ist, wie man es sich nur vorzustellen vermag. [...] Aus dem verstümmelten Zustand vieler Leichen und dem Inhalt der Kessel ging hervor, dass unsere unglücklichen Landsleute zum letzten schrecklichen Mittel - Kannibalismus - gezwungen waren, um ihr Leben zu erhalten."

Dass alle Mitglieder der Expedition inzwischen verstorben sind, war nach neun Jahren wohl zu befürchten, aber: Kannibalismus?!! Kann man diesem Bericht trauen? Die viktorianische Öffentlichkeit ist sich schnell und weitestgehend einig: nein!! Was nicht sein darf, das ist auch nicht so. Zahlreiche dementsprechende Leserbriefe erreichen die Times, und neben Franklins Ehefrau Lady Jane macht sich auch Charles Dickens zu einem harschen Kritiker Dr. Raes.

In diesem Vortrag erfahren Sie mehr zur Franklin-Expedition, der langjährigen Suche nach ihr, und den zeitgenössischen Reaktionen auf jeweils aktuelle Erkenntnisse zum Schicksal der Mannschaft.