Flensburger Erklärung 2022

Die Arbeitsgemeinschaft Gewerblich-Technische Wissenschaften und ihre Didaktiken (gtw) in der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft e. V. hat sich im Rahmen der 22. gtw-Herbstkonferenz 2022 anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Berufsbildungsinstituts Arbeit und Technik (biat) an der Europa-Universität Flensburg mit dem Themenkomplex "Dekarbonisierung, Digitalisierung, Demographie – Gestaltungsanspruch für gewerblich-technische Facharbeit und Bildung" auseinandergesetzt. Sie fasst ihre Einschätzungen zu notwendigen Entwicklungen in den Didaktiken und der Lehrkräftebildung in der folgenden Erklärung zusammen.

Berufsbildung ist Schlüssel für die Energiewende

In gewerblich-technischen Berufszweigen herrscht ein anhaltender Fachkräftemangel, wie unlängst anhand des fehlenden Fachpersonals zur Installation von Wärmepumpen in der Öffentlichkeit deutlich wurde. Berufe aus den Berufsfeldern der Informationstechnik, der Fahrzeugtechnik oder der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik in der Metalltechnik finden sich unter den Top Ten mit dem größten Personalmangel. Deutlich wird: Die drei zentralen Themenstellungen der gtw-Herbstkonferenz setzen die Berufsbildung seit geraumer Zeit und zukünftig noch wesentlich stärker unter enormen Handlungsdruck: Dekarbonisierung, Digitalisierung und Demographie. Die Umstellung auf CO2-freie Technologien führt zu gravierenden Veränderungen in der Energiewirtschaft, der industriellen Produktion und in den Dienstleistungsbereichen des Handwerks. Unmittelbare Auswirkungen auf die Facharbeit und die benötigten Kompetenzen der Fachkräfte sind die Folge. Ohne einen hoch qualifizierten gewerblich-technischen Fachkräftenachwuchs werden die anstehenden Aufgaben zur Realisierung der Energiewende nicht bewältigt werden können. Die gewerblich-technischen Wissenschaften und ihre Didaktiken (gtw) sind hier gefordert, die Veränderungen in der Facharbeit zu identifizieren und nachhaltig wirksame Konzepte für die Berufsbildung zu erarbeiten. Die gtw fordert daher den Bund und die Länder auf, die hierfür notwendigen Strukturen an den Hochschulen zu stärken und Programme aufzulegen, mit denen die Berufsbildung substanzielle Beiträge zur Gestaltung der Energiewende leisten kann.

Digitalisierung ist wesentliche Herausforderung für die berufliche Didaktik

Die Beiträge der Flensburger gtw-Konferenz zeigen: In den gewerblich-technischen Wissenschaften wird der Einfluss der Digitalisierung auf Facharbeit und Berufsbildung bereits vielfältig untersucht. Dabei wird auch deutlich, dass die Digitalisierung auch attraktivitätssteigernd und unterstützend auf Berufsbildungsstrukturen wirkt. Ebenso deutlich wird allerdings auch, dass in Lehr- und Lernprozessen oftmals eine Verkürzung auf den Aspekt der "Digitalisierung als Methode" erfolgt. Digitalisiertes Lehren und Lernen sichert jedoch nicht ab, dass die relevanten Digitalisierungsinhalte gelernt werden. Letztere sind den vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen nach mit den berufsbezogenen Handlungsstrukturen untrennbar verwoben. Digitalisierung kann daher nicht als isolierter Inhalt gelehrt werden. www.gtw-ag.de www.gtw-konferenz.de Für die gtw-Standorte ergibt sich daraus die Herausforderung, die Digitalisierungsinhalte im Studium gewerblich-technischer Studiengänge entsprechend didaktisch aufzuarbeiten. Die bislang in den ländergemeinsamen inhaltlichen Anforderungen der Kultusministerkonferenz für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken enthaltenen fach- und berufswissenschaftlichen Inhalte beschränken sich auf elementare Grundlagen der Informationstechnik und werden dem Charakter der durch die Digitalisierung aufkommenden Anforderungen an Lehrkräfte nicht mehr gerecht. Die gtw empfiehlt daher, die inhaltlichen Anforderungen fachrichtungsbezogen und berufsbezogen zu überarbeiten.

Demografie-Herausforderungen zukunftsorientiert begegnen

Es herrscht nicht nur ein Mangel an gewerblich-technischen Fachkräften, sondern es fehlt auch im hohen Maße der Nachwuchs für berufsbildende Schulen und Forschungseinrichtungen für die beruflichen Fachrichtungen Metalltechnik, Elektrotechnik, Fahrzeugtechnik, Informationstechnik und Bautechnik. Diesem, seit mehreren Jahrzehnten stets wiederholt kritisierten Mangel, wird nach wie vor nicht strukturell begegnet. Immer noch dominieren Sondermaßnahmen einzelner Bundesländer, Direkteinsteigerprogramme und eine Tendenz der Einführung ungeeigneter Bereichsdidaktiken an den Hochschulen. Eine Absicherung von Mindeststandards bei der Lehrkräfteausbildung ist so kaum zu erreichen oder gar abzusichern. In der Folge fehlt auch der wissenschaftliche Nachwuchs für die Berufsbildungsforschung. Die gtw wird daher eine Initiative zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses durch die Etablierung einer Veranstaltungsreihe ergreifen. Diese soll die Kompetenzen von Nachwuchswissenschaftler/-innen zur Untersuchung gewerblich-technischer Facharbeit und Berufsbildung fördern und einen Beitrag zur Nachwuchsgewinnung in der Wissenschaft leisten. Zudem wird die gtw die Vernetzung mit anderen Fachdidaktiken und insbesondere mit der Gesellschaft für Fachdidaktik (GFD) erhöhen. Zugleich fordert die gtw, dass Bund und Länder endlich gemeinsam mit den Hochschulen an strukturellen Lösungen für die Lehrkräftebildung in allen drei Phasen arbeitet. Neben der Notwendigkeit, zusammen mit der Berufsbildungspraxis Modellversuche durchzuführen, um zukunftsorientierte Lösungen für die Herausforderungen in der gewerblich-technischen Bildung zu schaffen, gilt es, die notwendigen Ressourcen an den Hochschulen für eine qualitätsorientierte didaktische Ausbildung wiederherzustellen.

Die Sprecher der gtw Flensburg, 07.10.2022

Prof. Dr. Matthias Becker, Leibniz Universität Hannover
Prof. Dr. Martin Frenz, RWTH Aachen
Prof. Dr. Lars Windelband, Karlsruher Institut für Technologie

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